Kinga Howorka ist Expertin für Rehabilitationverfahren und Professorin am Zentrum für Biomedizinische Technik und Physik der Medizinischen Uni Wien. Die Autorin mehrerer Sachbücher leitet eine ambulante Schwerpunktpraxis für Diabetes und Bluthochdruck.

Foto: Standard/Heribert Corn

Standard: Eine Ihrer jüngsten wissenschaftlichen Arbeiten handelt von "Diabetes Translation Research". Was genau ist das?

Howorka: Chronische Erkrankungen wie der Diabetes sind eine große Belastung für das Gesundheitssystem. Sowohl die Grundlagen- als auch die klinische Forschung entwickelten zwar einige wirksamen Behandlungsformen. Trotzdem blieb die Behandlungsqualität für Menschen mit Diabetes oft suboptimal, sogar schlecht. Der Wissenschafter Venkat Narayan untersuchte mit seinen Mitarbeitern 2006 die Gründe. Er erkannte, dass die Belastung durch chronische Erkrankungen nicht geringer wird, wenn man sich nur mit Therapiewirksamkeit und Idealbedingungen der Behandlung beschäftigt - ohne auf den Alltag des Erkrankten Bezug zu nehmen. Er erfand den Begriff "Translation Research", zu Deutsch: "Übersetzungsforschung".

Standard: Wie würde die praktische Umsetzung ausschauen?

Howorka: Die Ärzte müssten den Patienten relevante Informationen über ihre Krankheit mitgeben, aber immer abgestimmt auf die besonderen Lebensumstände der Menschen. Wichtig ist die Motivation zur Lebensstiländerung. Das ist bei häufigen Erkrankungen wie Diabetes oder erhöhtem Blutdruck aufwändig und gelingt am besten im Rahmen von Gruppenschulungen und umfassender Betreuung. Wir müssen den Draht zu den Leuten kriegen, ihnen deutlich machen, was sie selbst bewirken könnten. Vor allem ethnische und traditionell benachteiligte Gruppen, die schlechtere Zugänge zur Versorgung haben, könnten so erfolgreich behandelt werden.

Standard: Haben Sie messbare Erfolge mit Translation Research erzielen können?

Howorka: Unsere Forschungsgruppe hat mit Unterstützung der Medizinischen Uni Wien und des AKH in den letzten zwanzig Jahren wirksame Schulungsprogramme für Patienten mit der Zuckerkrankheit, mit Schwangerschaft bei Diabetes, Übergewicht, Blutfetterhöhung und Blutdruckerhöhung entwickelt und eingeführt. Das lässt sich durch Ergebnisse eines Benchmarkings, durchgeführt durch das Joanneum Research, belegen: Unser Zentrum erreichte die besten Ergebnisse. Es funktioniert also: Aber wirklich nur, wenn die Patienten eine Zeitlang in einer strukturierten, systematischen Betreuung waren.

Standard: Ein Beispiel ist die Funktionelle Insulintherapie FIT, die Sie entwickelt haben, um diese Anpassung der Therapie an den Lebensstil des Patienten zu ermöglichen. Welche Vorteile haben Diabetiker, wenn sie FIT anwenden?

Howorka: FIT erlaubt den Patienten Spontanität. Sie können essen, wann sie wollen, und sie können Blutzuckererhöhungen sofort korrigieren. Dadurch erhalten die Patienten ein Gefühl "der Kontrolle" über den eigenen Stoffwechsel und auch der Kompetenz, die sogar jener der Therapeuten ähnlich ist. Die Langzeitergebnisse zeigen, dass viele Patienten, die jahrzehntelang in Betreuung stehen, noch keine Folgeschäden haben. Dabei leben sie ziemlich unbeeinträchtigt - und dürfen beinahe das Leben eines Gesunden leben.

Standard: Wurde FIT von der Schulmedizin positiv aufgenommen?

Howorka: Die Einführung der Schulung für funktionelle Insulintherapie in Wien vor ziemlich genau 25 Jahren wurde anfangs kontroversiell diskutiert. Während die Patienten voller Begeisterung waren, entwickelte sich die Akzeptanz seitens des medizinischen Personals erst: Zuerst war man skeptisch, letztlich überzeugt, später wurde die Methode sogar kopiert. Heute sind Therapie und die strukturierte Schulung etabliert: Ich bin überzeugt, dass dadurch die Diabetesbetreuung in Österreich verbessert wurde.

Standard: Das Diabetes-Management wurde hierzulande zuletzt aber kritisiert. Im europäischen Vergleich landete Österreich im abgeschlagenen Feld. Ist das Land mit lebenslangen Erkrankungen überfordert?

Howorka: Mann muss das differenziert betrachten. Da die Anzahl der stationären Einrichtungen und der Spezialambulanzen beschränkt ist, wäre die deutsche Lösung, die Bildung von Schwerpunktpraxen zu fördern, zu begrüßen. Solche Praxen würden wir brauchen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das Gegenteil der Fall. Die wenigen Diabetesambulanzen können den Ansturm kaum bewältigen. Zu wenige niedergelassene Ärzte können die Zuckerkranken betreuen. Allgemeinmediziner sind manchmal mit der Notwendigkeit, die Patienten lange zu schulen, überfordert. Da sind die Kassen gefordert: Die Kosten aufwändiger Schulungsprogramme sollten rückerstattet werden. Das wäre die Basis für eine wirksame Qualitätssicherung. Das motiviert sowohl Patienten als auch Ärzte und würde zeigen, welche Bedeutung langfristiges Diabetes Management für das Gesundheitssystem hat. Man kann es ja ökonomisch betrachten: Durch Verlängerung und Verbesserung der Lebenszeit ohne relevante Spätfolgen können Kosten reduziert werden. Mit dem Diabetes-Programm "Therapie aktiv", das Allgemeinmediziner und Internisten für den Mehraufwand entschädigt, ist schon der erste Schritt in die richtige Richtung gelungen. Ich hoffe aber, der Administrationsaufwand wird kleiner, um die Umsetzbarkeit auch sicherzustellen. (Peter Illetschko, DER STANDARD Printausgabe, 16.03.2009)