Matthias Hartmann, Intendant, sieht in Wien Leidenschaft, Herzblut und Begeisterung fürs Theater daheim. Ihm selbst ist Theater Medizin, und Künstler-Sein Überlebensmaßnahme.

Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Sie sagten jüngst: "Ach, wenn ich an Bochum denke, denke ich fast ans Paradies"...

Hartmann: Würde ich sofort wieder unterschreiben.

STANDARD: Nach Bochum waren Sie in Zürich, ab September sind Sie an der Wiener Burg. Woran denken Sie fast, wenn Sie an Zürich denken?

Hartmann: An die Abflughalle im Flughafen. Die Sache des Theaters nimmt in Wien wie in Bochum einen anderen Stellenwert ein als in Zürich. Dort ist es in der Sprache der Standortförderer, der Kulturpolitiker, ja selbst des Publikums ein „nice to have", ein Luxusobjekt also, das man sich bei guter Laune und intakter Kaufkraft leistet.

STANDARD: Sie glauben, in Österreich ist das anders?

Hartmann: In Wien ist jedenfalls die Existenz von Theater - unabhängig von Wetter und Konjunktur - eine Selbstverständlichkeit. Man empfindet Theater hier als Notwendigkeit - mit Leidenschaft, Herzblut, Begeisterung. In Wien begleitet man das Theater grundsätzlich: Da schaut man sich nicht nur einmal den Don Carlos an, um das Stück seiner inneren Bildungsbibliothek einzuordnen, sondern über die Jahre immer wieder. Die Zuschauer finden in der einen Inszenierung den Regisseur toll, in jener die Schauspieler, dann die Ausstattung so schlecht wie sehenswert - und dieses Splitterwerk von Erlebnissen setzt sich zusammen zu einem grundsätzlichen Leben mit dem Theater.

STANDARD: Was macht Sie so sicher, dass die Wiener auch Ihr Theater begleiten werden?

Hartmann: Ach, ich habe hier Aufführungen gesehen, da wollten die Leute einfach nur sehen, wie schlimm das ist.

STANDARD: Weil Theater weh tun muss.

Hartmann: Das finde ich gar nicht. Das war nur flapsig gekontert. Theater kann so viel mehr, dieser Schmerzpunkt ist nur eine, sehr überschätzte, Eigenschaft. Die suchen vor allem Leute im Theater, die durch zu viel Besserwisserei unberührbar geworden sind - außer durch Schmerzpunkte.

STANDARD: Was macht die Burg zu Ihrer "Lebensperspektive"?

Hartmann: In Burg und Akademietheater steht wieder das Guckkastenformat im Zentrum. Dafür muss ich eine moderne Sprache finden. Das war in Zürich anders, mit den absolut freien Möglichkeiten, die der Theaterraum im Schiffbau geboten hat. Solche Kehrtwendungen entsprechen mir. Ich möchte mich verwandeln, immer wieder verändern. Ich widersetze mich damit der Forderung nach Schemata und Brandings. Ich glaube, dass diejenigen Regisseure, die künstlerischen Ausdruck als eine Art Logo verstehen und deshalb beginnen, ihr Erfolgssystem zu perpetuieren, immer schlechter werden.

STANDARD: Was macht die Burg für Sie zum "interessantesten Theater der Welt", wie Sie es beschreiben?

Hartmann: Es ist ein einzigartiges Theater.

STANDARD: Das ist jedes Theater.

Hartmann: Die Burg ist das einzigartigste unter den einzigartigen.

STANDARD: Warum?

Hartmann: Die Burg steht nicht nur in Augenhöhe mit den Instanzen, die für dieses Land die politische Verantwortung haben. Sie ist das einzige Theater, das größer ist, als das Land, in dem es steht. Eine unbeschreibliche Herausforderung.

STANDARD: Peymann war ein Aufreger, Bachler ein Ruhiger, wird Hartmann ein Lauter sein?

Hartmann: Was wollen Sie denn da anzünden um mich herum? Ich war nie leise. Ich werde Theater machen, hoffentlich interessant genug, dass die Leute weder von der Aufregung noch von der Ruhe sprechen, sondern vom Theater - und was es über die Welt, die Menschen zu sagen und an Wissen aufzudecken hat. Zudem bin ich nicht konfliktscheu, denke auch gern, bringe ein grandioses Dramaturgenteam mit, an dem ich meine Freude habe. Schauen Sie, er freut sich auch (zeigt auf den Hotel-Fensterputzer draußen, der gegen denWind kämpft und dabei lacht). Unlängst saß ich hier, da landete nebenan ein Hubschrauber, holte einen Patienten aus der U-Bahn...

STANDARD: Fahren Sie noch immer nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln, weil Sie das als "Einengung Ihres Individualismusdrangs" sehen?

Hartmann: Kennen Sie mich schon so gut?

STANDARD: Ich zitiere aus einem Interview.

Hartmann: Ich habe eine fast neurotische Angst vor Brutalität.

STANDARD: Kommt das von den Hockeyschlägern in Ihrer Internatszeit in Gloucester, mit denen man den "Kraut" ein bisserl einschüchterte?

Hartmann: Das wissen Sie auch?

STANDARD: Ihr Vater war Kaufmann, der Dritte-Welt-Läden gründete, Ihre Mutter Waldorf-Pädagogin. Sie wurden ins englische Internat geschickt, weil Sie als Kind schon so sehr Individualist waren?

Hartmann: Ich war ein schwieriger Junge, sozial nicht kompatibel.

STANDARD: Selten: Ihre Eltern, 68er, wollten, dass Sie Künstler werden. Sie wollten lieber Kaufmann sein, brachen aber Ihre zwei Lehren ab.

Hartmann: Ja. Ich verstehe Künstler, die gerne Künstler sind, nicht. Ich verstehe das Künstler-Sein als Überlebensmaßnahme. Herr Knaus, mein erster Lehrherr, kommt übrigens immer in mein Theater und beglückwünscht mich, dass ich die Lehre an den Nagel gehängt habe. Aber eigentlich bin ich ein Gescheiterter. Schöner Titel für Ihr Interview.

STANDARD: Aber auch sehr kokett.

Hartmann: Erstens ja natürlich. Zweitens bin ich gescheitert, weil mir die Flucht vor dem, was ich heute tue, misslungen ist.

STANDARD: Sie lernen das Leben auf der Probebühne, wie Sie sagen - und das Publikum schaut Ihnen dabei zu?

Hartmann: Ich empfinde die Wirklichkeit auf der Probebühne realer, als die so genannte wirkliche Wirklichkeit - weil dort Wirklichkeit ständig am Entstehen ist. Theater ist eine Wirklichkeitsfabrik, weil wir nicht versuchen, irgendeine Wirklichkeit nachzuahmen - wir stellen sie her. Ist es nicht so, dass sich überall Menschen einander etwas vorspielen? Im Restaurant, in der Geschäftswelt, beim Balzen? Im Theater besteht jedoch die Verabredung, dass man sich etwas vorspielt, und deshalb ist es vielleicht realer als die Wirklichkeit. Am Ende hat man das Gefühl, dass die wirkliche Wirklichkeit nur ein Teil der Möglichkeiten von Wirklichkeit ist, wie sie im Theater erforscht und ausprobiert werden. Wir stehen dazu, dass das Leben ein Theater ist, das macht uns täuschungsresistent.

STANDARD: Sie hatten mit 26 Ihre erste Inszenierung, waren mit 36 Theaterchef in Bochum, mit 42 im Zürcher Schauspielhaus und werden mit 46 Burg-Chef, Sie fahren gern Porsche. Sie leben schnell?

Hartmann: Ich glaube. Ja, ich lebe schnell. Wobei: Ich bin sehr beharrlich und konsequent in meiner Arbeit, in dem Einen, was ich tue. Ich verändere nur meine künstlerischen Ausdrucksformen sehr. Moderne Karrieren wechseln das Tätigkeitsfeld. Ich bleibe dem Theater treu.

STANDARD: In Zürich lebten Sie in einer alten Villa am See, haben Sie in Wien schon einen Lieblingsort?

Hartmann: Die vordere Ecke im Restaurant Schnattel hats mir angetan.

STANDARD: Ich hatte aufs Café Bräunerhof gehofft, wo Thomas Bernhard oft saß, und Sie haben ja grade Ihren ersten Bernhard inszeniert.

Hartmann: Ja, Bernhard ist zwingend, aber man muss insgesamt auf Wien eingestimmt sein. Ich habe mich hier einmal an Horvaths Kasimir und Karoline versucht, es ist mir misslungen. Weil ich nicht eingepegelt drauf war, nicht wusste, von welcher Not ich erzählen sollte. Ich war damals ein erfolgsverwöhnter Junge, der dachte, alles im Leben zu können - was für das Leben tödlich ist und fürs Theater noch tödlicher.

STANDARD: Wie ist das eigentlich, wenn man ausgebuht wird?

Hartmann: Ich mag diese Buh-Sache nicht. Wenn mir im Restaurant etwas nicht gefällt, schmeiße ich auch keinen Teller in die Küche. Dieses Uuu trägt wahnsinnig gut, vermischt sich dann mit dem Ooo vom Bravo, wird so zum Buuo-buuo-buuo. So können zwei, drei gut positionierte Buh-Schreier ein ganzes Haus zu einem einzigen Misserfolg machen. Alle Leute, die dagegen halten und Bravo schreien, müsste man eigentlich anweisen, nicht mehr Bravo zu rufen, sondern nur Braaa, braaa, braaa.

STANDARD: Sie fürchten sich davor, leiden unter Premierenangst...

Hartmann: Die beginnt schon am Nachmittag, aber nicht wegen der Buhs. Das Scheitern antizipiert man, es ist immer ein Scheitern, es gibt kein fertiges Stück: Ich habe am 4. September um 18 Uhr Premiere. Und dann ist es da. Und dann muss ich damit leben, und das ist furchtbar.

STANDARD: Wie ist es danach?

Hartmann: Dann ist man betrunken. Und am nächsten Tag fällt man ins Loch. Und dann kommen die Gratulationen und Kondolationen für die Kritiken.

STANDARD: Lesen Sie die?

Hartmann: Nie. Keine einzige jemals. Ich kann's nicht, verletzt mich zu sehr. Dieses ständige Der-Beurteilung-Ausgesetzt-Sein, dieses Rummäkeln und Nörgeln.

STANDARD: Am 4. September beginnen Sie Ihre erste Spielzeit mit Faust, grade gab‘s zwei Faust-Gastspiele an der Burg. Ärgert Sie das?

Hartmann: Sollte es?

STANDARD: Sie sind bei der Gewissensprüfung für den Zivildienst bewusst nicht mit Palästinensertuch aufgetreten, sondern haben sich einen Anzug dafür gekauft...

Hartmann: Stimmt. Warum fragen Sie das jetzt?

STANDARD: Weil ich zurück kommen wollte zu Ihrer Ablehnung von Kategorisierungen für sich. Sie ordnen andere, wie die Schweizer oder die Wiener, aber sehr wohl ein.

Hartmann: Orten Sie da was Schizophrenes? Ist ja ohnehin alles nur Maske.

STANDARD: Was ist darunter?

Hartmann: Was man halt so findet bei Zwanghaften. Die einen brauchen Medikamente dagegen, die anderen machen Theater. Gäbe es keine Theater, müssten die Anstalten erheblich ausgebaut werden.

STANDARD: Worum geht's im Leben?

Hartmann: Ums Überleben.

(Renate Graber, DER STANDARD, Printausgabe, 7./8.3.2009)