Was ist eigentlich Integration? Zwar ist der Begriff in aller Munde, aber auf der Suche nach der genauen Bedeutung wird man in den zahlreichen Papieren zum Thema nur selten fündig. Das Konzept stammt aus den 1970er-Jahren. Damals war der intervenierende Staat noch ebenso intakt wie der Glaube an den Fortschritt. Integriert werden sollten die "Randgruppen" ; das Ziel war die Gleichheit der Lebensverhältnisse.

Nun ist es doch erstaunlich, dass dieser Begriff seit einigen Jahren ein gewaltiges Comeback erlebt. Tatsächlich hat der Staat nach der neoliberalen Ära gar nicht mehr die Kapazitäten, für Eingliederung zu sorgen. Und auch zuvor waren die Maßnahmen zur Integration oftmals eher Lippenbekenntnisse: Die Papiere der 1970er Jahre kann man heute problemlos wieder vorlegen - geschehen ist zwischenzeitlich nicht allzu viel. So ist aus der Idee der Integration mit der Zeit eine Forderung an die Einwanderer geworden: Du musst Dich integrieren, und zwar individuell. Dabei ist jedoch unklar, wie "der Ausländer" das eigentlich machen soll. Bekanntlich ist die Arbeitslosigkeit unter Einwanderern hoch: Sie sind überdurchschnittlich in Jobs beschäftigt, die unqualifiziert und flexibel kündbar sind, und werden daher als erste entlassen, wenn die Konjunktur nach unten weist. Eine regelmäßige Arbeit aber ist notwendig, um in Deutschland oder Österreich in den Genuss von vollen Bürgerrechten zu kommen: Die Staatsangehörigkeit kann nur erwerben, wer sich selbst und seine Familie versorgen kann.

Unter solchen Bedingungen ist Integration ziemlich schwierig. Zudem führt die Unklarheit des Begriffes dazu, dass die Maßstäbe für Integration sich ständig verändern. Immer dann, wenn genügend Personen die aktuellen Hürden der Integration nehmen können, dann wird aufgesattelt - in Deutschland zuletzt mit dem berüchtigten Einbürgerungstest. Psychologisch hinterlässt das bei vielen Personen den Eindruck, dass sie in der Gesellschaft niemals ankommen können, egal wie sehr sie sich bemühen. Die Einwanderer haben das Gefühl, dass sie der Integration hinterherlaufen wie der Esel jener Mohrrübe, die der Reiter an einer Angel vor seinen Augen baumeln lässt.
Dennoch haben es in den zurückliegenden Jahren viele Menschen mit Migrationshintergrund geschafft, sich gegen viele Widerstände selbst einzugliedern. Ihre Lage bleibt allerdings prekär.

Doch niemand will von den vielen Unternehmern türkischer Herkunft hören, was für Schwierigkeiten sie als "Ausländer" mit den Behörden hatten, bis ihr Geschäft überhaupt an den Start gehen konnte. Anstatt dessen werden sie weiterhin gefragt, woher sie kommen. Wenn sie einen Ort in Deutschland oder Österreich nennen, wird so lange gebohrt, bis das vorgeblich Fremde zum Vorschein kommt. Dann geht die Ermittlung weiter: Wann es zurück geht in die Heimat? Akademiker mit Migrationshintergrund, Muttersprache Deutsch, müssen sich von Taxifahrern für ihr gutes Deutsch loben lassen. Und ein Blick in die Medien zeigt, dass auch die "integrierten" Migranten offenbar Leute sind, die ständig Probleme machen. Die potenziell gewalttätig sind, die es mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht so ernst nehmen und überhaupt eine Gefahr darstellen für "unserer Rechtsordnung".

Ist es also wirklich sinnvoll, weiter mit dem Konzept der Integration zu arbeiten - einem muffigen Wort aus den 1970er Jahren? Drückt sich in diesem Begriff nicht eine Sehnsucht aus, dass alles wieder so wird wie früher, wo die Anderen noch wussten, wo ihr Platz war? Da die "Fremden" nun nicht mehr weggehen, müssen sie offenbar integriert werden, damit es wieder ordentlich zugeht. Im Bereich der Bildung aber zeigt sich, dass die Effekte von Integration geradezu kontraproduktiv sein können. In Deutschland erklärt man sich hinter den Kulissen das schlechte Abschneiden bei "Pisa" vor allem mit den Defiziten der Einwandererkinder - wenn wir "die" rausrechnen, heißt es, dann stehen wir gar nicht so schlecht da. Was nicht stimmt. Dennoch richten sich die Bemühungen nicht auf die notwendige, grundlegende Reform des Schulsystems, sondern auf eine Reform der Kinder mit Migrationshintergrund. Sie werden mit allerlei Sondermaßnahmen überzogen, damit sie etwa bei der Einschulung dem deutschen Normkind entsprechen.

Allein, dieses Normkind gibt es nicht mehr. In deutschen Großstädten ist der demographische Wandel dramatisch: Bei den Unter-fünf-jährigen sind die Kinder aus Einwandererfamilien unterdessen in der Mehrheit. Es muss also darum gehen, die Institutionen so zu verändern, dass sie der Vielfalt gerecht werden. Verschiedenheit darf nicht länger per se als Problem betrachtet werden, sondern sollte als Herausforderung gelten - als Chance und Gestaltungsaufgabe.

Die meisten Unternehmen haben sich längst auf die neue Situation eingestellt und sogenannte Diversity-Programme eingeführt. Im Mittelpunkt steht dabei das Individuum - das Unternehmen schafft einen Rahmen, in dem der einzelne in seiner ganzen Unterschiedlichkeit sein Potenzial ausschöpfen kann. Denn nur wer sich wertgeschätzt fühlt, der will auch etwas beitragen zu den Aufgaben der Gemeinschaft, der er angehört. Tatsächlich müssen sich auch im Nationalstaat die Vorstellungen von Gemeinschaft ändern. Wir leben nicht länger in einer "Schicksalsgemeinschaft" - begründet durch eine geteilte Vergangenheit. In der Einwanderungsgesellschaft sind die Geschichten der Bürger vielfältig. Was wir aber teilen, ist eine gemeinsame Zukunft. Das ist die entscheidende Aufgabe: eine Gemeinschaft der Zukunft zu schaffen. (Mark Terkessidis, DER STANDARD, Printausgabe, 4.3.2009)