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Wie an keinem anderen Ort der Welt: eine bunte Truppe an Glücksrittern - und alle mit Migrationshintergrund.

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Weil in New York nichts normaler ist, als fremd und anders zu sein.

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Schon eine Woche nach der Ankunft am Flughafen JFK komme ich mit dem New Yorker Geldadel in Berührung - wenn auch nur kurz. In meinem Hostel hatte jemand per Aushang nach Hilfe beim Ausräumen seines Kellers gesucht, und ich war, gemeinsam mit Jim, einem jungen Australier, dem Ruf des Geldes gefolgt. Wenig später stehe ich in einem mehrstöckigen Townhouse in der Upper West Side, dessen Inneneinrichtung mich an die Prunkräume der kaiserlichen Gemächer von Schönbrunn erinnert: alte holländische Meister in wuchtigen Goldrahmen, Stuckatur und Fresken am Plafond, ein Himmelbett mit weinrotem Baldachin, riesige chinesische Vasen, Tapeten mit Goldnaht und schwere Vorhänge aus Brokat.

Während uns die Eigentümerin, eine blässliche Mittfünfzigerin, auf der Suche nach den nötigen Putzutensilien durch die Stockwerke führt, frage ich mich, wie es möglich ist, sich inmitten all dieses nutzlosen Pomps auch nur eine Sekunde lang wohl zu fühlen.

Bono, leicht gequält

Jim und ich machen Mittagspause in einem Diner am Broadway. Kaum haben wir bestellt, entdecken wir Bono, den Kopf der irischen Rockband U2, der ein paar Tische weiter die New York Times liest und dazu einen Burger verspeist. Ich war nie ein Fan von U2, dennoch bin ich von der Anwesenheit dieses Menschen, zu dessen täglichem Geschäft es gehört, vor zigtausend Menschen aufzutreten, augenblicklich fasziniert. Ich hätte Lust, Bono zu fragen, ob man sich je an das Gefühl gewöhnt, ein Star zu sein. Und in diesem Moment werde ich selbst zum Teenager. Ich werfe jegliche Selbstachtung ab, gehe an Bonos Tisch, lege behutsam Notizblock und Stift vor ihm auf den Tisch und murmle: I'm an aspiring musician. Der Halbgott blickt von der Lektüre der Times auf, sieht mich leicht gequält an, nimmt den Stift und schreibt in mein Notizbuch: Never aspire, conspire, perspire for hire.

Fünf Monate später. 7 Uhr abends.

Der 7-train verlässt Times Square, hält an den Stationen 5th Avenue und Grand Central, durchtaucht den East River, wird in Queens zur Hochschaubahn, dreht ab nach Norden, fährt parallel zum East River, bietet dabei einen Blick auf die Breitseite von Midtown Manhattan, für den allein es sich hundertmal gelohnt hätte, nach New York zu kommen, lässt die Wolkenkratzer hinter sich, fährt weiter auf meterhohen Stelzen vorbei an Büroquadern, runden Wasserkanistern auf Flachdächern und unförmigen Wohnsilos, hält im irischen Viertel Woodside, dann bei den Indern in Jackson Heights, und zuletzt in Flushing, dem Viertel der Chinesen und Koreaner. Der 7-train, auch International Express genannt, durchquert Queens, jenen Stadtteil New Yorks, in dem 150 Sprachen gesprochen, Tageszeitungen in 90 Sprachen gelesen werden und an dem es eine derart hohe Anzahl verschiedener Ethnien gibt wie an keinem anderen Ort der Welt.

Von der U-Bahn-Station Woodside sind es 12 Gehminuten, vorbei an fünf Irish Pubs, bis zu einem kleinen zweistöckigen Backsteinhaus, das ich seit vier Monaten bewohne und in dem Xenia zu einer Dinnerparty geladen hat. Neben unserer Mitbewohnerin Rosalba sind auch Yo, Bangham, Paulina, Anna und Liz anwesend. Paulina, Anna und Liz haben russische Vorfahren, Xenias Eltern kommen aus den Philippinen, jene von Rosalba aus Panama, die von Yo aus China und Banghams Eltern emigrierten in den 60ern aus Korea.

Ein Unfall? Nein. Ein Terrorakt

Als ich Xenias Freunde einige Monate zuvor kennengelernt hatte, ertappte ich mich dabei, wie mir bei jedem Treffen ihre Herkunft bewusst wurde. Jedes Mal, wenn ich Yo traf, dachte ich unwillkürlich: Ich sehe in das Gesicht eines Chinesen. Eine Reaktion, die ich darauf zurückführte, dass in Österreich nicht ein einziger Mensch mit Migrationshintergrund zu meinem Freundeskreis zählt. Nun, einige Monate später, stelle ich mit Genugtuung fest, dass ich aufgehört habe zu unterscheiden, durch die Gesichter hindurch sehe, und endlich in New York angekommen bin, jenem Ort, an dem die Worte "anders" und "fremd" so bedeutungslos sind, wie nirgendwo sonst, weil nichts hier normaler ist, als anders und fremd zu sein.

Acht Monate später. 9 Uhr morgens.

Ich sitze in der Bibliothek des Music Institute am CCNY (City College of New York) und höre Beethoven, als mir eine Bibliotheksangestellte mitteilt, dass soeben ein Flugzeug in einen Turm des World Trade Center geflogen sei. Wohl ein Unfall, sagt sie. Fünfzehn Minuten später kommt sie erneut und meint, dass nun auch in den zweiten Turm ein Flugzeug geflogen sei. Vermutlich kein Unfall, sondern ein Terrorakt. Ich verlasse die Bibliothek und verbringe die nächsten Stunden gemeinsam mit hundert anderen Studenten vor einem großen Fernseher in der Lobby des Uni-Hauptgebäudes, verfolge dort, wie die beiden Türme des WTC, nur ein paar Dutzend Kilometer von mir entfernt, nacheinander in sich zusammenfallen.

Dann verlasse ich den Campus und versuche, da der U-Bahn-Verkehr aus Sicherheitsgründen eingestellt wurde, per Bus downtown zu gelangen. Schließlich gehe ich dann aber doch zu Fuß weiter. Zwei Stunden später bin ich auf der Queensboro Bridge, die für den Autoverkehr gesperrt wurde, bin einer von Tausenden, die, einem biblischen Exodus gleich, Manhattan zu Fuß in Richtung Queens verlassen. Einige Minuten lang stehe ich am Brückengeländer und sehe über den East River hinunter nach Süden, auf die Rauchsäule, die dort über dem Financial District in einen strahlend blauen Himmel steigt, und versuche das Unbegreifbare zu begreifen. Drei Monate später. Umzug nach Manhattan. Oder besser gesagt, Umzug in die Dominikanische Republik, denn Inwood, das am nördlichen Spitz Manhattans zwischen Hudson und East River gelegene Viertel, ist voll mit Einwanderern aus dem Karibikstaat und gilt informell als dessen zweitgrößte Stadt. In ganz Inwood wird Spanisch gesprochen, in den Delis, den Supermärkten und den Trattorias. Freddie und Charles dagegen, meine WG-Mitbewohner, sind nicht aus der Dom. Rep., sondern aus Nigeria. Charles ist US-Staatsbürger, hat am CCNY studiert und arbeitet im Import-Export-Business. Freddie, sein Cousin, arbeitet in einem "car wash" , schickt die eine Hälfte des Einkommens nach Nigeria zu seiner Familie und spendet den Rest seines Geldes der Kirche.

Sechs Monate später. 1 Uhr früh.

Yves kommt zurück zum Hub, dem Einstellplatz der Rikschas. Die Fahrer sitzen in ihren Gefährten, stärken sich, vergleichen die Höhe der Tageslosungen und tauschen die Erlebnisse des Tages aus. Yves lächelt, er ist zufrieden - wie die meisten Fahrer. Freitage sind immer gut, noch dazu ist Monatsanfang, da sind die Paychecks noch frisch und die Trinkgelder hoch, zudem regnete es, und bei Regen ist der Bedarf an Taxis noch größer als sonst. Yves arbeitet seit fünf Jahren als Fahrradtaxifahrer in Manhattan. Der Franzose fuhr nach Beendigung seines Studiums mit dem Fahrrad auf und davon und kam erst sieben Jahre später wieder zurück. Auf einer seiner letzten Etappen lernte er den New Yorker Robert kennen, der ihm von einer Arbeit in seiner Heimatstadt erzählte, bei der gutes Geld zu machen wäre. Robert selbst arbeitet im Übrigen nur vier Monate pro Jahr als Rikschafahrer, die restlichen Monate geht er um die Welt, zu Fuß. Im Moment ist er in Chile. Dann ist da Petar, der Kriegsflüchtling aus Serbien, Kevin, der über Sechzigjährige, Lu, die kleine zierliche Chinesin, Henry, der Kolumbianer, der seine Fahrgäste mit Opernarien unterhält und dafür Unsummen an Trinkgeld kassiert, ein Haufen Schauspieler, Musiker, Models, Drehbuchautoren, Studenten und, ja, zu der bunten Truppe aus Glücksrittern gehöre, trotz Bonos gut gemeinten Ratschlags, niemals für Geld zu schwitzen, auch ich - alle schätzen wir die Vorteile dieses ungewöhnlichen Jobs: freie Zeiteinteilung und Selbstständigkeit. Denn George Bliss, der das Business Anfang der 90er-Jahre mit ein paar Rikschas und der Absicht begann, einen ökologisch sinnvollen Gegenentwurf zum täglichen New Yorker Verkehrschaos zu liefern, fungiert nicht als Arbeitgeber, sondern als Verpächter seiner Rikschas, die er gegen einen täglichen Pachtzins wartet und repariert.

Kurz nach Yves kommt Pat mit seiner Rikscha zurück. Schon von weitem jubelt er, streckt seinen rechten Fuß weg, der nackt ist, unbeschuht, anders als der linke, hält mit einer Hand einen Geldschein in die Höhe, und wir alle wissen, dass für Pat heute ein Glückstag war. Er ist jenem Irren am Times Square begegnet, der gelegentlich in verregneten Sommernächten vorbeifahrende Rikschafahrer anhält, um ihnen gegen ein freiwilliges Entgelt von 100 Dollar einen einzigen ihrer beiden verschwitzten und vom aufspritzenden Straßendreck durchnässten Socken abzukaufen. Nur in New York. Caput mundi. Hauptstadt der Irren, Hauptstadt der Welt. (Arthur Fürnhammer, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 28.02/01.03.2008)