Eisige Ankündigung des Jahres 1938: 1. 1. 1938 am Donaukanal. 

Foto: ÖNB Bildarchiv

Ein großes, komplexes Kunstwerk.

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Wien - Ruhig fließt das Wasser durch den Donaukanal und durch die Jahre. Fast scheint es durch die Seiten des jüngsten Romans von Thomas Stangl zu strömen. Im Fluss der Sätze, in den Erzählungen - seine Anwesenheit bleibt spürbar.

Zwei Leben an den Ufern des Donaukanals sind es denn auch, von denen der Autor, der selbst 1966 in Wien geboren wurde, in seinem dritten Roman "Was kommt" berichtet. Das einer jungen Frau und das andere eines jungen Mannes, beide zu Beginn des Romans etwa 17 Jahre alt. Oder jung. Manches scheint sich in ihren Leben zu gleichen.

Beide wachsen bei einer Großmutter auf, nehmen das Familienleben der anderen als fremde, unzugängliche Existenzform wahr. Beide stehen "auf der anderen Seite", eine Formulierung, die sich immer wieder findet in dem Buch. Sie ziehen sich zurück in eine Welt der Bücher, der Sprache - Beobachter des Lebens, das sich in unerreichbarer Nähe vor ihnen abspielt. Für das sie keine Sprache haben. Das jedes Verlassen der Wohnung zur Marter werden lässt - ausgesetzt fremden Blicken und fremden Gedanken.

Selbst die Innenstadt, wenige hundert Meter entfernt von der hellhörigen Wohnung in Erdberg ist für Andreas Bichler fremde Ferne. Seit seiner Kindheit hat er sie nicht mehr betreten. An der Hand der Eltern zuletzt.

Auf der anderen Seite des Kanals wohnt Emilia Degen. In der Leopoldstadt, in einer großen Jugendstilwohnung mit Blick auf den Karmelitermarkt. Ihr Vater lebt mit wechselnden Frauen in Argentinien. Einen verregneten Sommer am Traunsee wird sie neben ihm verbringen. Den Juli 1937.

Denn nicht nur der Donaukanal trennt Emilia Degen und Andreas Bichler - etwa vierzig Jahre liegen zwischen ihren Leben. In stetem Wechsel beschreibt Thomas Stangl die Tage der beiden - doch scheinen die Seiten zunehmend durchlässig zu werden, lösen sich Konturen auf und überlagern einander.

Emilia konnten die Leser schon in Stangls vorhergehendem Buch ein bisschen kennenlernen, in "Ihre Musik". Als alte Frau bewohnte sie damals jene Wohnung mit dem L-förmigen Korridor, in der sie nun als 17-Jährige lebt, gemeinsam mit ihrer um vierzig Jahre jüngeren Tochter Dora.

Jene alte Dame mit kurzgeschnittenem weißen Haar, als die Thomas Stangl Emilia in "Ihre Musik" beschrieb, taucht ebenso auf an den Ufern des Donaukanals wie manche andere Figur, die aus ihrer Zeit fällt. Tote und Lebende begegnen einander, der Asphalt der Straßen wird rissig, es scheinen die früheren Bewohner Wiens daraus heraufzusteigen.

Ein Stich von Venedig hängt in Emilias Zimmer. Georg, der Sohn des jüdischen Buchhändlers, mit dem Emilia so etwas wie Glück erlebt, bevor er 1938 für immer verschwindet, wird ihr von der Stadt auf dem Wasser erzählen, "er wird ihr von dem dichten versteinerten Wald unter Wasser erzählen, auf dem diese Stadt mit ihren Plätzen, Gässchen und Palästen aufgebaut ist: die abgeholzten Stamm für Stamm in die Lagune geschifften Wälder des Veneto, die zwischen den kleinen Inseln ein dichtes Fundament von Pfählen bilden sollen und zugleich ein Souterrain, unsichtbare Katakomben formen, eine zweite Stadt ohne Licht unter der sichtbaren, überall abgebildeten, von müßigen Touristen besuchten. Wird er von einem Rückzugsort geredet haben, von einer Hölle, von einem Traum."

Venedig - Vineta - Wien

Mit Georg wird Emilia auch ins Theater gehen, in das Stück eines verhafteten Autors, das "Vineta" von Jura Soyfer sein könnte. Eine andere Unterwasserwelt einer versunkenen Stadt. Auch Venedig und Vineta scheinen durch in Thomas Stangls Wien. Schon zu Beginn von "Was kommt" zitiert er den Film "The Wedding March" von Erich von Stroheim. Bilder von Wien, in Hollywood nachgebaut, Erinnerungen eines 1909 in die USA gegangenen jüdischen Wieners. Die Apfelblüten in Nussdorf sind aus Wachs.

Alles Leben scheint erfunden, erfunden auf die virtuoseste Weise, und so beschreibt Thomas Stangl zuletzt noch einen Gang auf die andere Seite. Andreas Bichler könnte der misteriöse Mann sein, der hin und wieder auftaucht, nass aus dem Wasser steigt, mit Füllfeder und Laptop Figuren erfindet. Er "wird immer neue Tote herstellen, immer neue Figuren, die an seiner Stelle sterben, bis er sie wieder verlässt, ein Kind, das vom Tod träumt; nur sein Hunger wird bleiben." (Cornelia Niedermeier, DER STANDARD/Printausgabe, 25.02.2009)