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Die Ohrmuschel hilft Schallquellen im Raum zu orten

Foto: EPA

Wer Senioren genauer betrachtet, sieht sich mit dem Märchen von Rotkäppchen konfrontiert. Der böse Wolf und der alte Mensch haben eines gemeinsam: Die großen Ohren stechen als äußeres Erscheinungsmerkmal besonders hervor. Anlass genug für die Frage, ob die menschlichen Ohren auch nach Abschluss des Allgemeinwachstums weiter wachsen. Und wenn ja, ist dem irgendeine Bedeutung beizumessen?

0,22 Millimeter pro Jahr

Man muss kein Anthropologe sein, um zu bemerken, dass sich die menschlichen Körperproportionen lebenslänglich verändern. Verglichen mit dem großen Kopf eines neugeborenen Kindes sind die Veränderungen im fortgeschrittenen Alter allerdings weniger ausgeprägt. Der britische Wissenschaftler James Heathdote wollte es Mitte der 90er Jahre ganz genau wissen. 412 Ohren hat er vermessen und herausgefunden, dass sich ihre Länge durchschnittlich um 0,22 Millimeter jährlich vergrößert. Aufgerechnet auf ein ganzes Leben ist das Ohr eines 80-Jährigen also um einen guten Zentimeter länger, wie das eines jungen Erwachsenen.

Schwerkraft oder Wachstum

Mit Heathdotes Erkenntnis war klar, nicht der Kopf schrumpft, sondern die Ohrmuschel macht eine Veränderung durch. Ungeklärt blieb: Wächst das Ohr oder wird es nur größer, weil es im Alter erschlafft? Zweifelsohne sind Fettgewebsschwund und Elastizitätsverlust an dem Erscheinungsbild eines alten Menschen entscheidend beteiligt. Wie alle anderen Körperstrukturen auch, verliert das Ohr zunehmend seine Spannkraft, um irgendwann einfach nur mehr der Schwerkraft zu folgen.

Hörverluste kompensieren und Schallquellen orten

Die Antwort auf Rotkäppchens Frage an den bösen Wolf, warum er so große Ohren besitze, war allerdings nicht gelogen. In der Tat entscheidet die Größe mit über das Hörvermögen.
Die Berliner Humanbiologin und Anthropologin Maike Nibbrig hat 2005 im Rahmen ihrer Staatsexamenarbeit (Geschlechts- und Altersabhängigkeit von Merkmalen des menschlichen Ohrs) 1448 Ohren fotografiert und vermessen. Die jüngste Ohrmuschel war ein paar Wochen alt, die betagteste 92 Jahre. Ihre Ergebnisse zeigten sich ident mit einer Untersuchung aus den 50er Jahren: Das menschliche Ohr vermehrt ein Leben lang seine Knorpelgrundsubstanz. Es wächst, allerdings nur ganz bestimmte Teile davon. Dort wo der Kopfhörer des MP3-Players sitzt, in der so genannten Incisura intertragica, tut sich absolut nichts. Was Ohrlänge und Breite anbelangt, passiert dagegen sehr viel und das nicht ganz ohne Grund. Die Ohrmuschel ist nämlich darum bemüht, die altersbedingte nachlassende Hörfähigkeit zu kompensieren indem sie ihre äußere Form verändert. Und wird damit ihrer grundsätzlichen Bestimmung Schallquellen im Raum zu orten auch bis ins hohe Alter gerecht.

Die Fähigkeit der Ohrmuschel akustische Signale zu lokalisieren, haben Wissenschafter der Universität Kiel in den 80er Jahren in einem Versuch erfolgreich unterdrückt. Nachdem sie Probanden das Relief ihrer äußeren Muschel mit Gips oder Silikon nivelliert haben, konnten diese keine Töne mehr orten.

Im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat die Universität Potsdam kürzlich aktuelle Daten einer anthropometrischen Studie veröffentlicht. Dabei fällt nicht nur auf, dass das Wachstum der Ohren bis zum Ende des untersuchten Altersbereichs anhält, sondern auch, dass ältere Menschen im Vergleich zu jüngeren deutlich breitere Daumen und Zeigefinger besitzen. (phr, derStandard.at, 20.2.2009)