Durchkreuzte Lebensfreude und allmähliches Dagegen-Aufbegehren: Magaly Solier (re.) und Marino Ballón im Berlinale-Gewinner "La teta asustada" von Claudia Llosa.

Foto: Berlinale 2009

Berlin - Als Berlinale der Frauen hatte man das Festival 2009 in den vergangenen Tagen bereits des Öfteren ausgerufen. Primär wurde das von jenem Umstand abgeleitet, dass beginnend mit der dänischen Ex-Soldatin Lotte (Little Soldier) ein bemerkenswertes Aufgebot an Filmheldinnen die männlichen Protagonisten überflügelte.

Auf ganz andere Art fand diese Beobachtung nun auch ihren Niederschlag in der Preisvergabe. Von den fünf Frauen, deren Regiearbeiten für den Berlinale-Wettbewerb nominiert worden waren, wurden gleich zwei prämiert: Die deutsche Filmemacherin Maren Ade erhielt für ihren zweiten Spielfilm Alle Anderen einen Silbernen Bären und Hauptdarstellerin Birgit Minichmayr einen weiteren als beste Schauspielerin (siehe Artikel unten). Ades peruanische Kollegin Claudia Llosa wiederum konnte für ihre ebenfalls zweite Spielfilmregie La teta asustada / The Milk of Sorrow den Hauptpreis des Festivals, den Goldenen Bären, entgegennehmen.

Es geht im Film der Nichte von Mario Vargas Llosa um die junge Fausta (Magaly Solier), die große Ängste plagen, eine Traumatisierung, die sich sozusagen über die Muttermilch auf sie übertragen hat und die ihr Leben beschwerlich und eng macht. Llosa fasst dieses Leben, das sich auf die realen Erfahrungen peruanischer Frauen mit systematischer Vergewaltigung bezieht, und den Widerstand, den Fausta allmählich gegen dieses Schicksal entwickelt, in eine metaphernreiche, musikalische Erzählung. Und sie wünsche sich, so die Regisseurin in ersten Stellungnahmen nach der Preisverleihung, dass ihr Film diese verdrängte Thematik wieder ins öffentliche Bewusstsein rufe. Ob La teta asustada auch in Österreich ins Kino kommt, ist derzeit noch nicht bekannt.

Die Jury unter Vorsitz von Tilda Swinton votierte so am Ende vor allem für Autorenprojekte, die jenes eigenständige Profil zeigten, das so viele Produktionen in diesem Jahr vermissen ließen. Auch der gleich dreimal ausgezeichnete Argentinier Adrien Biniez (Gigante) oder der Iraner Ashgar Farhadi (Alles über Elly) haben eigene Drehbücher verfilmt. Komplizen Film heißt die Produktionsfirma von Maren Ade, Janine Jackowski und anderen Mitstreitern. Ein schöner Name für ein Unternehmen, in dem die Funktionen rotieren, aber der Einsatz gleich hoch bleibt.

Internationale Großprojekte, die Personalkontingentierungen und andere Vorgaben der nationalen Geldgeber erfüllen müssen, vermochten dagegen nicht nur im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale selten restlos zu überzeugen (von The International über Sturm bis zu Theo Angelopoulos' The Dust of Time oder auch Julie Delpys The Countess im Panorama).

Dafür gab es gerade in der Sektion Forum eine ganze Reihe von bemerkenswerten Low- bis No-Budget-Unternehmungen, die ihr Zustandekommen Privatinvestoren verdanken. Beziehungsweise der "Querfinanzierung" durch ihre Macher, die ihren Lebensunterhalt anderweitig bestreiten - wie Andrew Bujalski, dessen dritter Spielfilm Beeswax in Berlin Premiere hatte. Passenderweise geht es darin auch um die Erfahrung, dass aus einem in Freundschaft gestarteten Projekt allmählich ein Business wird und irgendwann Anwälte bemüht werden müssen, weil die geschäftlichen Differenzen auf freundschaftlicher Basis nicht mehr zu lösen sind.

Wie schon in Funny Ha Ha und Mutual Appreciation entwickelt der Amerikaner Bujalski ausgehend von und in Zusammenarbeit mit einem nichtprofessionellen Cast um die Zwillingsschwestern Tilly und Maggie Hatcher eine stimmige Milieustudie. Einmal mehr gelingt ihm dabei die Beschreibung von Alltäglichem mittels präzis entwickelter Situationen und Dialoge, die einen eigenen Witz entfalten.

Seitenwechsel mit Gewinn

Auch Profischauspieler wechseln mitunter mit Gewinn die Seiten. So waren Zoe Kazan und ihr Kollege Mark Rendall einzeln im Wettbewerb in The Private Lives of Pippa Lee und My One and Only zu sehen. Gemeinsam standen sie für The Exploding Girl von Bradley Rust Gray vor der Kamera - einem bündigen kleinen Sommerferienfilm, der von Ivy und Al erzählt, die seit der Schule beste Freunde sind und nicht recht wissen, ob sie diese Freundschaft für eine Beziehung aufgeben sollen. Ihre Annäherung bleibt vorsichtig, fast keusch. Vor diesem Hintergrund wirken dann eine Hand, die nach einer anderen greift, und ein fest ineinander verschlungener Händedruck so intensiv, wie es kein Leinwandsex so schnell könnte.

Das Mysterium der kleinen Gesten, der alltäglichen Routinen entfaltete sich auch im Debütfilm des schwedischen Regie-Duos Fredrik Wenzel und Henrik Hellström: Burrowing / Man tänker sitt, angesiedelt in einer aufgeräumten Suburbia, folgt in Fragmenten den Beobachtungen eines kindlichen Helden, der den schattseitigeren Erlebnissen einiger Bewohner nachspürt. Ein bestechender Rätselfilm, ein kompromissloses dunkles Märchen.

Schließlich mag es daran liegen, dass das Festivaldasein als Herdentier inmitten der Tausendschaften von Kinogängern Spuren hinterlässt, aber als heimlicher Festivalliebling entpuppte sich in den letzten Tagen auch Sweetgrass, ein Dokumentarfilm von zwei US-Ethnologen, die über einen Zeitraum von drei Jahren den Arbeitsalltag einer der letzten Schafzüchterfamilien in Montana und ihrer Tiere beobachtet haben.

Fern von jeder Disneyfizierung werden Abläufe und Tätigkeiten begleitet. Der erste Szenenapplaus für einen Vierbeiner erfolgte bereits nach wenigen Minuten. Gäbe es einen Berlinale-Preis für die schönste Schimpftirade, dann müsste sie einer seiner berittenen Hirten erhalten. Aber Bären sind in Sweetgrass ausnahmslos eines: die natürlichen Feinde der Schafe. (Isabella Reicher, DER STANDARD/Printausgabe, 16.02.2009)