Sommer auf Sardinien in trügerischer Harmonie: Birgit Minichmayr und Lars Eidinger geraten in Maren Ades "Alle Anderen" bald aneinander.

 

 

Foto: Berlinale

Der Berlinale-Besucher erliegt nicht nur im Kino optischen Täuschungen. Auch sonst pflegt man in der Stadt eine ganz eigene Form des Trompe-l'OEil: Die schmucklosen Fassaden der neuen Büropaläste beispielsweise, die die letzten Baulücken am Potsdamer Platz füllen, wirken tendenziell zweidimensional. Umso besser schließen daran dann die Fake-Fassaden an. Eine Simulation der künftigen Bebauung im Maßstab eins zu eins, bedruckte Riesentransparente, von hinten mit komplizierten Gerüstkonstruktionen abgestützt und windsicher gemacht.

Eigentlich wären diese Flächen herrlich große Kinoleinwände - noch größer als jene, die hier momentan für die Retrospektive benötigt werden. Monumental geradezu und wie gemacht nicht nur für jene Aufnahmen des Monument Valley, durch das in John Fords Cheyenne Autumn die letzten Cheyenne, verzweifelte Männer, Frauen und Kinder, flüchten, verfolgt von der US-Army und Freiwild für durchgeknallte Cowboys und übermütige Städter.

Gewürdigt wird 70 mm, das Filmformat fürs Epische, Ausladende, Gewichtige, Überbordende. Die Vorführungen von Klassikern wie Lawrence of Arabia, Playtime, Krieg und Frieden oder 2001 finden unter anderem im Kino International statt. Und bevor dort der Goldglitzervorhang aufgeht und der Vorspann von Cheyenne Autumn die Leinwand füllt, wird erst einmal eine Ouvertüre zugespielt. So viel Einstimmung muss sein. Und so viel Muße.

Am anderen Ende der Skala befinden sich die "kleinen" Filme, die die Sektion Forum zeigt. Arbeiten, die ganz konkret und bei sich bleiben - und das nicht nur, weil sie über wesentlich kleinere Budgets verfügen: die Nahaufnahme des französischen "Ausbrecherkönigs" Michel Vaujour beispielsweise. Oder Beobachtungen aus dem Alltag von Psychiatriepatienten in einer kleinen psychiatrischen Klinik, die Kazuhiro Soda in Mental/Seishin zeigt. Ein greiser Professor und sein Team sind für ihre Klienten da, die vor allem ambulant behandelt werden. Der Film sammelt einerseits Eindrücke, Aufnahmen der räumlichen Verhältnisse, der Körperhaltungen. Der Regisseur hat einzelne Sitzungen bei Professor Yamamoto mitgeschnitten und schließlich auch selbst Gespräche mit Patientinnen und Patienten geführt. So erschütternd deren Lebens- und Krankheitsgeschichten auch sind - es überwiegt der Eindruck, dass man hier ein geglücktes gesellschaftliches Projekt beobachten kann.

Edel verwahrlosen

Der Wettbewerb baut hingegen ein Jahr mehr auf Themen- oder Star-Power und landet damit zum Beispiel bei Lukas Moodysons Mammoth: geschmäcklerischer (Wohlstands-)Verwahrlosungskitsch zwischen New Yorker Lofts, thailändischen Animierlokalen und philippinischer Armut. Oder bei Stephen Frears' Cheri: ein Ausstattungsexzess, der sich leider nur partiell zum Burlesken vorwagt, mit Michelle Pfeiffer als Pariser Kurtisane mit Lebenserfahrung und dem schlimmsten Rauscheengelhaar seit den Hexen von Eastwick.

Alle Jahre wieder schaffen es aber auch ein, zwei "kleine" Film als Schmuggelware in die Bären-Konkurrenz. In diesem Jahr ist das Maren Ades zweiter Spielfilm Alle Anderen. Eine visuell und sprachlich ganz präzise Beziehungs- und Verhaltensstudie, die vor allem von den beiden Hauptdarstellern Birgit Minichmayr und Lars Eidinger verkörpert und dynamisiert wird:

Gitti und Chris machen Urlaub auf Sardinien, im komfortablen Haus mit Pool, das Chris' Eltern dort besitzen. Am Anfang ist die Stimmung ausgelassen, innig, albern, einvernehmlich. Aber das Leben zu Hause - Chris, der Architekt, wartet auf das Ergebnis einer Projekteinreichung - und die Begegnung mit einem alten Bekannten und dessen Frau lassen diese vermeintliche Paarsymbiose schnell brüchig werden. Kaum kommt der selbstgefällige, alle bevormundende Hans (Hans-Jochen Wagner) ins Spiel, geht Gitti auf Konfrontation und Chris in die Defensive. Schon ist ein Konflikt angerissen, der die Beziehung der beiden bald untergräbt.

Die minimalen Verschiebungen und den stillen Verrat, die Ungleichzeitigkeiten und Unverhältnismäßigkeiten, das Anbiedernde und Unsichere - und alles, was sonst eben so auftaucht, sobald zwei versuchen, ihre Gefühle und ihr Verhältnis zueinander zu fassen und dann womöglich noch vor Dritten darzustellen -, all das beobachtet und inszeniert Alle Anderen sehr genau.

Wenn das die "Power" wäre, die auch Jurys überzeugt, das wäre schön. (Isabella Reicher aus Berlin / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12.2.2009)