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Toronto - hier das Wahrzeichen, der CN Tower - ist mit rund 2,5 Millionen Einwohnern die größte Stadt Kanadas.

Foto: Reuters/Thornhill

Unter den kahlen Wohntürmen von North York wirkt die Forest-Manor-Schule wie eine helle, freundliche Oase. An den Wänden der Eingangshalle hunderte von bunten Turnschuhen aus Papier, und mittendrin ein Plakat: "Torontos Schulen in Bewegung". Auf den Gängen schwirren Kinder von Zimmer zu Zimmer. Für einen Betrieb mit 660 Grundschülern ist der Geräuschpegel erstaunlich niedrig. In dieser Vorstadt Torontos wohnen viele arme Immigranten. In Forest Manor können ihre Sprösslinge auf eine bessere Zukunft hoffen: Diese Schule ist auf die Integration von ausländischen Kindern spezialisiert.

Mit dem Sprachunterricht fängt alles an. Die Tür zu Darlene Hindleys Klassenzimmer steht offen. Unter den elf Kindern, die um die Lehrerin herum auf dem Teppich sitzen, nur ein einziges weißes Gesicht. "Die grüne Maus", sagt Frau Hindley, und die Kinder rufen im Chor "geht am Donnerstag." Ein Bub schweigt, hängt aber an den Lippen der Lehrerin. Der achtjährige Stephen Guo aus China, erzählt Darlene Hindley später, "ist eben erst in Kanada angekommen und spricht kein Englisch".

Für Forest Manor ist das kein Problem, sondern Alltag. Rund drei Viertel der Schüler hier sind Immigrantenkinder, sie stammen aus 39 Ländern. Neulinge wie Stephen Guo erhalten täglich eine Stunde Intensivunterricht auf Englisch. "Wir bringen ihnen zuerst ein Überlebensvokabular bei", sagt Frau Hindley. "Sie sollen ihre Adresse und Telefonnummer kennen, das Alphabet, Farben, Körperteile, Familienmitglieder, Dinge im Haus und was im Pass steht." Stephens maßgeschneidertes Programm steht auf einer langen Liste von Fördermaßnahmen an dieser Schule. Kein Kind geht unter.

Nur eine Tür weiter ein kleines Zimmer für den Einzelunterricht im Lesen. Eine siebenjährige Schülerin aus Asien liest große Buchstaben an einer Magnettafel Die Leselehrerin lobt sie für jeden Schritt. In Torontos Schulen wird individuelle Lernunterstützung von der Provinz Ontario finanziert. Sie gibt den Schulen Zuschüsse für die Vielfalt ihrer Leistungen: je mehr Immigranten, umso mehr Geld.

Modellcharakter bringt Geld

Anhar (8) spricht Arabisch. Jetzt lernt er gerade Zahlen auf Englisch. In Anhars Klassenzimmer gibt es Bilderbücher auf Arabisch, mit englischer Übersetzung auf derselben Seite. Dasselbe in Farsi, Koreanisch, Chinesisch, in jeder erdenklichen Sprache. Die Forest-Manor-Schule konnte sich diese Bücher aus einem Sonderzuschuss der Provinzregierung von rund 600.000 Euro kaufen, weil sie zur Modellschule erkoren wurde.

Mit diesem Geld kann sie jetzt auch noch mehr Fachkräfte finanzieren. Lehrerin Hanna Davidson ist an diesem Morgen nicht die einzige Erwachsene in ihrer 1. Klasse. Eine Beschäftigungstherapeutin beobachtet einen autistischen Buben. An einem der runden weißen Tische sitzt auch eine Sprechlehrerin. Und eine bezahlte Lehrassistentin kümmert sich während jeder Schulminute ausschließlich um Stone, einen aus China stammenden Buben mit Verhaltensproblemen. Zusätzlich hilft eine Sozialarbeiterin Stones Familie.

Alle 16 Schüler dieser Klasse gehören ethnischen Minderheiten an. Schulvorsteherin Debbie Smith kennt fast jedes Kind beim Namen. Vor allem vergisst sie keines, das auf der "Risiko-Liste" steht. Das sind Schüler, über die das Lehrerkollegium zweimal im Monat auf der Suche nach den besten Fördermaßnahmen spricht. Stone kommt den Gang entlanggeschlendert. "Das machst du schon viel besser" , sagt die Direktorin, "früher bist du immer gerannt." Stone drückt sich wortlos an ihr vorbei. Lehrerin Hanna Davidson korrigiert ihn sanft: "Schau Frau Smith an, sie hat dir soeben ein Kompliment gemacht." In Forest Manor wird auch soziales Verhalten geübt.

Manche Kinder stammen aus Kulturen, in denen direkter Augenkontakt vermieden wird, sagt die in Jamaika geborene Lehrerin Andrea Francis. "Dann sagt man ihnen: Es ist okay, wenn du mir in die Augen siehst." In anderen Familien verstößt Singen oder Tanzen gegen die Religion. "Wir versuchen, allen Religionen und Bräuchen entgegenzukommen", sagt Andrea Francis. Die Kinder sollen stolz auf ihre Herkunft sein. Es hilft, dass einige der Lehrkräfte aus Ländern wie Korea, Serbien, China oder Iran emigriert sind. "Wir kennen die Situation der Kinder aus eigener Erfahrung", sagt Francis.

Umzug schafft Probleme

Mittagspause. Im Schulhof deutet Debbie Smith auf einen der grauen Wohnsilos. Sie hat dort Familien besucht und deren Armut kennengelernt: Kisten statt Möbel, Tücher vor den Fenstern. Wenn die armen Immigranten dann ein bisschen Geld gespart hätten, zögen sie in bessere Viertel, und mit ihnen die Schüler, sagt Smith. Dieser ständige Wechsel erschwert die Bemühungen der Lehrer enorm. Aber die Direktorin sieht das als gegeben, man macht das Beste daraus. Sie selbst, Mutter von zwei Kindern, ist eine Konstante: Schon seit elf Jahren leitet sie die Schule.

Eine junge Frau mit Kinderwagen kommt lächelnd auf sie zu, Aliya Rizva aus Pakistan. Zwei ihrer Kinder besuchen die Forest Manor School. Sie war auch jüngst auf einem von der Schule organisierten Grillfest. "Ich kann mit den Lehrern über alles reden", sagt Aliya. "Ich fühle mich wohl in der Schule, es ist wie ein Zuhause."

Forest Manor ist Treffpunkt und Anlaufstelle für die Eltern. Neben dem Lehrerzimmer haben zwei Settlement Workers ihr Büro, vom Immigrationsministerium bezahlte Helfer beim Einleben in Kanada. Eine von ihnen erklärt gerade zwei Müttern aus dem Iran die Schulstruktur. Die Schule hat Dolmetscher in dreizehn Sprachen.

Torontos Schulbehörden erhielten für ihre Integrationsbemühungen im Vorjahr den Preis der deutschen Bertelsmann-Stiftung. "Wir sehen die kulturelle Vielfalt nicht als Problem, sondern als Stärke", sagt Chefbeamter Lloyd McKell in seinem Büro in North York. Das vielfältige Miteinander beflügle die Schüler. Kanada brauche Immigranten, die schnell auf dem Arbeitsmarkt reüssierten. "Wir sind bereit, Ressourcen und Geld für Schüler einzusetzen, die sonst nicht die Möglichkeit hätten, als Kanadier erfolgreich zu sein."

McKell, selbst in Trinidad geboren, will aber die Zahl jener senken, die die Schule abbrechen. In manchen Bevölkerungsgruppen sind es 40 bis 50 Prozent. Torontos Losung: "Wir bestrafen nicht, wir kommen ihnen entgegen." (Bernadette Calonego aus Toronto/DER STANDARD, Printausgabe, 10.2.2009)