Acht Jahre Proust-Lektüre: Peter Matić.

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Marcel Proust - Ein Leben
Eben erschienen: Jean-Yves Tadiés dickleibige Biografie

Wien - Marcel Proust selbst hielt, wie er in einem frühen Aufsatz über Baudelaire schrieb, eher wenig von der posthumen Suche nach den Spuren der Biografie im Werk eines Autors. Dessen ungeachtet reizte gerade in seinem Fall, wegen des raffinierten Spiels mit der Fiktion einer Autobiografie, der Zusammenhang von Leben und Roman die Forscher. Neben George Painters zweibändiger Biografie zählt jene des französischen Proust-Kenners Jean-Yves Tadié zu den seriösesten Werken.

Zwölf Jahre nach ihrer Publikation erschien sie nun auch in deutscher Übersetzung: 900 Seiten plus 300 Seiten Anmerkungen und Bibliografie. Tadié, Herausgeber der siebenbändigen Pléiade-Ausgabe der Recherche, interessiert es offenkundig wenig, dem Leser eine gefällige Lektüre anzubieten. Er breitet, eher hölzern und umständlich, ein ungemeines Detailwissen aus - webt tausende feiner Verbindungslinien zwischen den beiden Marcels - dem literarischen und jenem, den er im Autor sieht. Für Proust-Enthusiasten allemal ein Gewinn, zumal Tadié stets fein differenzierend die Ebenen unterscheidet - um sie dann doch, Schüler des Verehrten, durchschimmernd übereinanderzulegen. Leider fehlen in der deutschen Bibliografie wesentliche Titel - nicht zuletzt die wunderbare Übersetzung von Band II und III der Recherche durch Walter Benjamin. (cia)

Jean-Yves Tadié: "Marcel Proust. Biographie" . 1265 Seiten / 68 Euro, Suhrkamp 2008

Foto: Suhrkamp/Jean-Yves Tadié: "Marcel Proust. Biographie"

Peter Matić hat sie auf Hörbuch eingelesen. Rund 170 Stunden.

Wien – "Die Orte, die wir kannten, gehören nicht nur der Welt des Raums an, der wir sie der Einfachheit halber zuordnen."

Mit dem oft zitierten Satz beendet Marcel Proust 1913 In Swanns Welt, den ersten Teil seines großen, siebenbändigen Romanwerks Auf der Suche nach der verlorenen Zeit / À la Recherche du Temps Perdu. Einen winzigen Spaltbreit öffnet er hier die Tür der Schreibstube und gibt den Blick frei auf einen der zentralen Ausgangspunkte seines Schreibens: "Die Erinnerung an ein gewisses Bild ist der wehmütige Rückblick auf einen gewissen Moment; und die Häuser, die Straßen, die Avenuen, ach!, sind flüchtig wie die Jahre."

Nichts, so eine zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts höchst moderne Erkenntnis des Romans, nichts, das der Mensch wahrnimmt, hat absolute Gültigkeit für ihn. Alles verändert sein Gesicht im Auge des Betrachters. Weil dieser sich verändert. Die Häuser. Vor allem aber die Menschen.

Rund zehn Jahre lang, bis zu seinem Tod am 18. November 1922, widmete sich der schwer asthmakranke Proust nahezu ausschließlich der Niederschrift des ausufernden Werks. Knapp 5000 Seiten und sieben Bände umfasste die Recherche zuletzt. Oder, in heutigem (Zeit-)Maß: Rund 150 CDs, insgesamt etwa 170 Stunden.

Zeile für Zeile. Ungekürzt.

Seit acht Jahren nämlich widmet sich der RBB (Rundfunk Berlin Brandenburg) einem der bisher größten und ehrenwertesten Unterfangen auf dem Hörbuch-Sektor: Der Burgschauspieler Peter Matić liest den gesamten Roman ein, in der deutschen Übersetzung von Eva Rechel-Mertens. Ungekürzt. Zeile für Zeile.

Dass auch nicht ein Wort verlorengeht oder vergessen wird, darüber wachen die Lektoren des Hörverlages, der das audiophile Abenteuer koproduziert. Jede übersehene Silbe werde nachträglich eingearbeitet, so Peter Matić. Sodass der Hörer gewiss sein darf, nicht einer auf fragwürdige Höhepunkte reduzierten Kurzfassung zu lauschen, sondern buchstäblich der ganzen Recherche.

Vor wenigen Wochen, im Januar, hat Peter Matić in Berlin die letzten Seiten des siebten Bandes eingelesen. Auf Hörbuch erschienen sind bisher vier Bände – In Swanns Welt, Im Schatten junger Mädchenblüte, Die Welt der Guermantes und Sodom und Gomorrah – knapp 100 CDs.

Lässt man sich als Leser der Recherche auf das Hören ein, stellt man mit Verwunderung fest, wie sehr sich auch der Roman in der Wahrnehmung verändert: Prousts ausführliche Reflexionen über Malerei, Musik oder Literatur, die ein Innehalten, Nachdenken und Wiederlesen erfordern, treten im stetigen Fluss der Erzählung in den Hintergrund.

Desto eindringlicher aber präsentiert sich das Frankreich der Belle Epoque, gehüllt in Roben aus mauvefarbenem Samt, Taft oder Faille, aus Crêpe de Chine, Satin oder Seide, stets bereit zu scharfzüngigem Klatsch: Über dreißig Jahre hinweg beschreibt Proust in der fiktiven Autobiografie des Ich-Erzählers Marcel das Innenleben der Pariser Salons – jener der Hocharistokratie vom Faubourg St. Germain um die Herzogin von Guermantes und jene des vermögenden, aufstiegs- und bildungsbeflissenen Bürgertums, wie im "kleinen Zirkel" der Mme Vinteuil.

Es ist die unvergleichliche Gabe Peter Matićs, das Paradox zu Wege zu bringen, in einem Erzählton nobler Zurückhaltung doch gleichzeitig jeder der vielen hundert Figuren, die die Welt der Recherche bewohnen, zarte Nuancen eigenen Lebens einzuhauchen.

Und die über Seiten hinweg mäandernden Satzgebilde Prousts mit höchster Leichtigkeit darzubringen: Wofür er manchen Sommer über dem Buch verbrachte, um Satz für Satz, mit farbigen Stiften ausgerüstet, in der ihm eigenen Melodie kennenzulernen, auszuprobieren und einzustudieren.

Eine Hingabe, für die ihm aller Dank gebührt. Und die das Hören zur beglückenden Sucht werden lässt. Gestern. Heute. Morgen. (Cornelia Niedermeier, DER STANDARD/Printausgabe, 07./08.02.2008)