Alles eine Frage der "Kultur"?

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Buchcover "Zwangsfreiheiten".

Cover: Zwangsfreiheiten/Promedia

Freie Sitzplätze gab es am 28. Jänner im Veranstaltungsraum der Wiener Hauptbibliothek keine mehr, sogar Stehplätze wurden knapp. Anlass für das rege Interesse war die Buchpräsentation von "Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus", in dem in sechzehn Beiträgen Expertinnen aus Theorie und NGO-Praxis zum Thema Stellung nehmen. "Eine Idee für das Buch war, Geschlechterverhältnisse im Prozess der Migration zu untersuchen", so Politikwissenschafterin Birgit Sauer, die gemeinsam mit Sabine Strasser, Elisabeth Holzleithner und Gamze Ongan das Buch präsentierte.

Dem in den letzten Jahren oft immer lauter gewordenen Ruf nach Geschlechtergerechtigkeit in Zusammenhang mit Migration, Kultur und Religion will "Zwangsfreiheiten" kritisch gegenübertreten. Geschlechteregalitäre Anliegen ausschließlich als Forderungen gegenüber Minderheitenkulturen zu formulieren, richtet einen Scheinwerfer auf diese Kulturen, meinte Mitherausgeberin Sabine Strasser. Infolge dieser diskursiven Isolierung von Themen wie Genitalverstümmelung, Zwangsehen, Ehrenmorde oder Kopftuch würden gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge ausgeblendet. Die Analysen des Sammelbandes möchten diesen in den Debatten oftmals fehlenden Kontext rund um Multikulturalität und Feminismus wieder ins Spiel bringen, erklärte Strasser.

Entwicklungen

Anstoß zu dem Buch waren sowohl innenpolitische Entwicklungen, wie etwa die 2006 von österreichischen Ministerinnen veröffentlichte Broschüre über "Maßnahmen gegen traditionsbedingte Gewalt gegen Frauen in Österreich", als auch globale Entwicklungen: Der Umgang mit MuslimInnen weltweit nach dem 11. September 2001 und die gehäuften "Berichte aus dem Inneren", wie Strasser jene Bücher nannte, die autobiographisch von Gewalt aufgrund des Herkunftskontextes berichten. Beispiele sind "Die fremde Braut" von Necla Kelek oder Ayaan Hirsi Ali´s "Ich klage an". Strasser beschrieb als eine Konsequenz solcher Bücher die Abwertung von Minderheitsgesellschaften und eine Aufwertung der "demokratischen" Mehrheitsgesellschaften.
Auch Gamze Ongan, Leiterin des Beratungs-, Bildungs- und Therapiezentrums "Peregrina", zeigte sich gegenüber diesen Autobiographien kritisch und beschrieb die Funktion solcher Erzählungen als eine willkommene Möglichkeit "endlich nicht mehr politisch korrekt sein zu müssen".

Ongan verwies auch auf mögliche negative Auswirkungen des von Strasser beschriebenen eingeschränkten Spots auf Frauenrechte im Zusammenhang mit Migration und berichtete aus eigener Erfahrung: Ob sie denn auch zwangsverheiratet sei, wurde Ongan in einem Café gefragt, als sie sich gerade auf Türkisch mit Freundinnen unterhielt.  Durch die Präsenz von Schlagwörtern wie "Zwangsheirat" würden aus der öffentlichen Diskussion zunehmend alltägliche Probleme von Migrantinnen wie Arbeitsrechte, Aufenhaltsrechte oder Probleme wie Armut und Bildungsfragen verschwinden, so Gamze Ongan.

Wer und Wann.

Das Verlangen nach Frauenrechten wird außerdem durch den Zeitpunkt - Zwangsheirat und die Debatte um "traditionsbedingte Gewalt" tauchten im Jahr 2006 parallel zu den Diskussionen um die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf - als auch dadurch, wer plötzlich Geschlechteregalität einfordert, unglaubwürdig. Plakatierte doch ausgerechnet die FPÖ "Freie Frauen statt Kopftuchzwang", eine Partei, die sonst wenig Interesse an feministische Themen zeigt, kritisierte Ongan. Diese neue Aufmerksamkeit gegenüber Migrantinnen resultierte in der Praxis auch darin, dass Organisationen wie "Peregrina" zunehmend von WissenschafterInnen oder JournalistInnen als "Castingagenturen für Opfer" genutzt werden, wie es Ongan ausdrückte.

Die Beiträge

Die ebenfalls anwesende Juristin Elisabeth Holzleithner ging in ihrem Text auf die Frage nach den Möglichkeiten des Rechts in mulikulturellen Gesellschaften ein. Die Positionen gegenüber dem Recht befinden sich oftmals zwischen "unrealistischen Heilserwartungen einerseits und einer Verteufelung des Rechts andererseits" so Holzleithner. Somit lag ihr Anliegen in einer Auslotung der juristischen Möglichkeiten, einer Analyse des Autonomiebegriffs sowie einer Betrachtung der Forderung nach "Gruppenrechten".

Aufgrund dieser Gruppenrechte besteht etwa die Möglichkeit, dass von einem kirchennahen Unternehmen Loyalität gegenüber der jeweiligen Organisation verlangt wird, was einen Ausschluss von geschiedenen oder homosexuellen Menschen bedeuten kann.
Holzleithner setzte sich in ihrem Beitrag auch mit dem Dilemma der Forderungen von minoritären Gruppen nach "Gruppenrechten", unter denen schließlich einzelne Gruppenangehörige leiden können, auseinander.

Sabine Strasser beschäftigte sich in ihrer Analyse mit Debatten zu dem Begriff der "sexuellen Ehre", auch kritisierte sie eine Verstärkung des "kulturellen Unbehagens" und die Stigmatisierung von Minderheiten durch die diskursive Kulturalisierung von Gewalt, die somit auch als "importierte Gewalt" vermittelt werde. Strasser sieht in Begriffen wie "traditionsbedingt" oder "im Namen der Ehre" eine Verankerung und Dichotomisierung von kulturellen Differenzen, die anstelle von langfristigen und effektiven Maßnahmen gegen Gewalt treten.

Eine "schwedische Tragödie"

Unni Wikan erzählte in ihrem Text - der streckenweise an die bei der Buchpräsentation kritisierten "Geschichten aus dem Inneren" erinnerte - "Das Vermächtnis von Fadime Şahindal" die Geschichte einer durch den eigenen Vater ermordete Schwedin. Wikan schreibt aber im Gegensatz zu schwedischen Zeitungen, die von der Ermordung einer "kurdischen Frau" berichteten, von einer "schwedischen Tragödie" und will dem Begriff "Ehrenmord" auf globaler Ebene nachgehen.

Sawitri Saharso beschäftigte sich mit der Frage nach der Möglichkeit eines multikulturellen Feminismus, formulierte aber die Frage "Is Multiculturalism bad for women?", so auch der Titel des bekannten und umstrittenen Aufsatzes der US-amerikanischen Feministin Susan Moller Okin, in "ist kulturübergreifende feministische Solidarität möglich?" um. Saharso ging dieser Frage am konkreten Beispiel des "Female Genital Cutting" nach.

Weitere Themen liefern unter anderem auch Corinna Milborn ("Weibliche Genitalverstümmelung in Europa"), Anne Phillips ("Geschlecht versus Kultur") oder Christa Markom und Ines Rössl ("Exit-Möglichkeiten in Theorie und Praxis"). Erfahrungen und Beobachtungen aus der Praxis liefern die Beiträge von NGO-Mitarbeiterinnen Maria Cristina Boidi vom Verein LEFÖ (Beratung, Bildung und Begleitung von Migrantinnen) oder Tamar Citak, die als Beraterin in der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familien tätig ist.

Die fundierten Begriffs- und Diskursanalysen sowie die Beobachtungen von ExpertInnen aus Theorie und Praxis ergeben einen detaillierten und differenzierten Überblick über eine aktuelle Debatte, die das Thema neben den oftmals rassistisch motivierten Skandalisierungen dringend nötig hat. (Beate Hausbichler, dieStandard, 8.2.2009)