Paulus Hochgatterer: "Sie ist eine Art Janis Joplin für Kinder: wild, laut, in fetzigen Klamotten ... das einzige Wesen in Strapsen, bei dem nicht einmal du eine blöde Bemerkung machst."

Bild: Peter Baldinger / Museum der Moderne Salzburg

Wenn meinem Freund Klaus und mir fad ist, spielen wir ein Spiel: Beatles oder Stones? Beatles natürlich. Claudia Cardinale oder Sophia Loren? Sophia Loren, richtig. Fisch oder Fleisch? Ich Fisch, er Fleisch. London oder Rom? Er London, ich Rom. Bernstein oder Karajan? Carlos Kleiber. Pippi Langstrumpf oder Harry Potter? Ich sage: "Pippi Langstrumpf, keine Frage!" Und er sagt: "Harry Potter, der hat was." Ich sage: "Ja, aber Pippi Langstrumpf ist so etwas wie die Jeanne d'Arc des Nordens, der Rob Roy Smålands. Sie ist eine Art Janis Joplin für Kinder: wild, laut, in fetzigen Klamotten." Und während er nachdenkt, sage ich noch: "Außerdem ist sie das einzige Wesen in Strapsen, bei dem nicht einmal du eine blöde Bemerkung machst." Dann sagt er, ein wenig präkapitulatorisch: "Na gut, Strapse, wie soll ein braver britischer Knabe da mithalten?" Und ich sage: "Na eben, dieser Harry Potter ist die ganze Zeit mit der neurotischen Abwehr seiner Triebhaftigkeit beschäftigt, mit der Nichtbewältigbarkeit seiner inneren Konflikte, und merkt nicht, wie ihn ein manipulatives repressives Erziehungssystem zu Lustverzicht und Anpassung zwingt." Er sagt: "Immerhin besiegt er Lord Voldemort. Und ich sage: "Ja, Voldemort, die Schlange mit dem glatten Kopf, von jeher ein Symbol ... wofür wohl?" Er sagt noch: "Ihr Psychos mit eurer dreckigen Fantasie." Und ich frage rhetorisch: "Na, und wo endet dein Harry Potter? In der absoluten Idylle - Häuschen, Kinder und die Schwester des Freundes als Frau." "Und deine Pippi Rob Roy Langstrumpf?", fragt er, "wo endet die?" "Wo das Leben halt so endet, wenn man ihm entgegentritt" , sage ich, "in der Einsamkeit." Pippi sitzt am Schluss allein an einem Tisch, vor ihr brennt eine Kerze, dann ist es aus." "Aber sie hat die Krummelusspille geschluckt", sagt Klaus, "die bewirkt, dass sie nie erwachsen wird." "Wie auch immer das gemeint ist", sage ich.

Von Einsamkeit ist die Rede, von Kindheitslektüre - und von Bildung. "Am Weg saß ein Schweinchen und weinte. Petzi und seine Freunde hörten es und liefen schnell zu ihm." Das sind die ersten Sätze, die ich lesen konnte, der Beginn des Pixi-Buches Petzi hat keine Angst. Sie vermittelten mir eine Ahnung davon, was im Leben Bedeutung hat, nämlich Freunde, und dass man lernt, ohne Eltern auszukommen. Heute weiß ich, dass sie mir vermittelten, was brauchbare Kinderliteratur ausmacht, nämlich, dass sie einigermaßen ohne Eltern auskommt. Petzi tut das, und Pippi tut es auch; ihre Mutter ist tot, und die Nähe zum Vater, König von Takatukaland, erträgt sie nur ganz kurz.

Überhaupt verzichtet sie auf alles, was man mit dem Begriff Erziehung verbindet. Einzig das Schulsystem in Argentinien lässt sie gelten: Da fangen die Oster- drei Tage nach den Weihnachtsferien an, und dann dauert es nur drei Tage bis zum Beginn der Sommerferien. Die Sommerferien ihrerseits hören am 1. November auf, und dann muss man sich abrackern, bis am 11. November die Weihnachtsferien beginnen. Schularbeiten sind in Argentinien verboten; nur manchmal kommt es vor, dass sich ein Kind in einen Schrank schleicht und Schularbeiten macht; aber wehe, wenn das jemand sieht. Das ist gute Kinderliteratur; vor allem für ein Lehrerkind wie mich war es das. Am besten allerdings gefiel mir die Art, in der Pippi schläft, die Füße auf dem Kopfpolster und den Kopf tief unter der Decke, in Anlehnung an die Art, in der Menschen in Guatemala schlafen, die einzig richtige Art zu schlafen überhaupt.

"Harry Potter schläft mit den Händen auf der Bettdecke", sage ich, "und wenn er es einmal nicht tut, wird ihm sein Besen für zwei Wochen in den Schrank gesperrt." "Oder er muss einen Drachen besiegen" , sagt Klaus, "den ungarischen Dornschwanz zum Beispiel." "Über Sexualität und scharfe Gewürze rede ich jetzt nicht" , sage ich, und mit Klaus und mir könnte es so weitergehen: Österreichische Gegenwartsliteratur oder Fernsehen? "Eigentlich Fernsehen" , sagt Klaus, "sei mir nicht böse" . "Na gut", sage ich. Fernsehen oder Kino? Kino, ganz klar. Fernsehen oder Radio? Radio, zumindest meistens. Ö1 oder Ö3? Ich Ö1, er auch, nachdem er sich wortreich bei der "Musicbox" entschuldigt hat. Axel Corti oder Heinz Fischer-Karwin? Ich bin für Heinz Fischer-Karwin, wegen der Stimme. Er ist für Axel Corti, wegen der Schachtelsätze.

"Und das ‚Traummännlein‘?", frage ich. "Das ‚Traummännlein‘ oder was?", fragt er. "Um Gottes willen", sage ich, "das ‚Traummännlein‘ ist konkurrenzlos." Dann verfallen wir beide in jene Art von Sentimentalität, zu der nur Fortysomethings, die die "Traummännlein" -Phase ohne grobe Traumatisierung absolvieren durften, in der Lage sind. "Traummännlein" war super, - obwohl man sich eigentlich nur diese Melodie gemerkt hat. "Kannst du sie nachsingen?" , frage ich. Klaus schüttelt den Kopf. "Angeblich ist sie von Schubert", sagt er.

Was passiert dort, wo die "Traummännlein" -Melodie erklingt und man mit Pippi Langstrumpf den Kopf unter die Bettdecke steckt, obwohl es so nicht vorgesehen ist? Es tut sich eine Zone des Weltvergessens auf, des Realitätsverzichtes, zugleich eine Zone der auditiven Wachheit, eine Situation, die in ihrer regressiven Freiheit an Zeiten erinnert, da man schon hören und fühlen konnte, einem die Weltbetrachtung im visuellen Sinn jedoch noch erspart geblieben ist. Das Kind füllt diesen akustisch und taktil definierten Raum mit Eigenem, mit Bildern, Ideen, traumhaft umgeformten Ängsten und Sehnsüchten, und erzielt, sofern es dabei nicht gestört wird, das, was man in einer psychoanalytischen Terminologie die libidinöse Besetzung des eigenen Imaginationsvermögens nennen kann. Die Verknüpfung von Vorstellung, Lust und Normenübertretung, das ist es, was nicht nur Sexualität nett macht, sondern vor allem aktive, neugierige, engagierte Welterfahrung ermöglicht, das, was wir in einem meines Erachtens viel zu umfassenden Sinn "Lernen" nennen.

Himmel oder Hölle?

Vorstellung, Lust und Normenübertretung, also Ungehorsam, als Grundlagen des neugierigen, forschenden, buchstäblich "eigensinnigen" Lernens, das ist in unserem primär selektionsorientierten Erziehungssystem nicht vorgesehen. Die Menschen tun es trotzdem, so weit die gute Nachricht, und merken sich letztlich, worauf sie Lust haben und was ihnen nützt und was nicht.

Unser primär selektionsorientierte Erziehungssystem kann als die Ausgeburt einer Primitivvariante christlicher Jenseitslehre begriffen werden: gut oder böse, Himmel oder Hölle; man kann aus einem psychiatrisch-psychoanalytischen Blickwinkel die polaren, auf Zwischentöne verzichtenden Denkmechanismen einer frühen psychischen Störung diagnostizieren: schwarz oder weiß, gut oder böse, Überleben oder Vernichtung; oder es kann mit Niklas Luhmann als ein Apparat gesehen werden, dessen Bestimmung es ist - unter Anwendung des binären Codes: bestanden/ durchgefallen - aus Kindern Trivialmaschinen zu erzeugen.

Zitat Luhmann: "Trivialmaschinen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auf einen Input dank einer gespeicherten Regel einen bestimmten Output produzieren. Auf eine Frage geben sie, wenn richtig programmiert, die richtige Antwort. (...) Trivialmaschinen lassen sich leicht beobachten und beurteilen, man braucht nur festzustellen, ob die Transformation von Input zu Output richtig funktioniert."

Trivialmaschinen mucken nicht auf, reden nicht zurück, haben nur die richtigen Ideen. Sie geben Antwort, wenn es von ihnen erwartet wird, und am Abend liegen sie im Bett, Köpfe auf den Pölstern, Hände auf der Decke.
Apropos Harry Potter: Trivialmaschinen, und das spielt in der Zurüstung zu einem globalen Trivialmaschinenpark eine wichtige Rolle, sind vergleich- und damit kontrollierbar. Wer ist besser, Ravenclaw oder Hufflepuff, Slitherin oder Griffindore? Alle paar Jahre findet unter entsprechendem Tamtam das ritualisierte Turnier statt, die Pädagogik der gesamten westlichen Welt wird zu Hogwarts (man nennt es nur Pisa) und fühlt sich dabei sicher, denn erstens kennt man sich mit Harry Potter im Gegensatz zu anderen pädagogischen Standardwerken aus und zweitens hat man gemeinsam Lord Voldemort besiegt.

Brav oder schlimm?

Systeme aber, die auf Triebunterdrückung basieren, denen es darum geht, den Voldemort im Menschen, also Lust und Aggression unter Verschluss zu halten und zu kontrollieren, neigen zur Systematisierung und Ausweitung wie in der Psychiatrie der Wahn. Die ganze Welt wird Hogwarts, man lernt unter Aufsicht ein Leben lang, kriegt alle paar Jahre die Prüfplakette und knapp vor dem Tod machen alle die gleiche Matura. Die Humboldt'sche Maxime, Ziel der Pädagogik sei es, Kinder ins Erwachsenenalter zu führen und selbstständiges Lernen zu ermöglichen, wobei die Fähigkeit zu Letzterem in der Regel mit dem Erlangen der Universitätsreife erreicht sei, gilt längst nicht mehr. Gymnasium und Studium funktionieren zunehmend gleich, Originalität ist verdächtig, und Ungehorsam führt zum Rauswurf.

Vielleicht sind diese Dinge auch nur logisch und haben ihre Ursache in Wahrheit darin, dass wir alle aufgrund der zunehmenden Veränderungsbeschleunigung nicht mehr erwachsen werden und die überbordende Infantilität der Menschen eine kontrollierende Pädagogik notwendig macht. Man nehme nur meinen Freund Klaus und mich. Ein bisschen mehr Trivialmaschinenidentität stünde uns nicht schlecht an. Brav oder schlimm? Schlimm, keine Frage.

Hogwarts oder Guatemala? Na, was wohl?

(Paulus Hochgatterer, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 31.01/01.02.2008)

Gekürzte Fassung einer Preisrede zur Verleihung des Radiopreises für Erwachsenenbildung, der am 19. Jänner 2009 für die besten Radiosendungen des Jahres 2008 in Wien verliehen wurde.