Das Kino verfolgt den Besucher bis ins Bett. Mit ein wenig Glück erwischt man auf dem Filmfestival von Rotterdam derzeit eines jener Hotelzimmer, die Ausblick auf eine der Projektionen auf öffentliche Gebäude bieten. Statt blanken Fassaden sehen einen dann etwa nachdenkliche Gesichter an - wie im Beitrag der Niederländer Nanouk Leopold und Daan Emmen.

Sie haben eine der wirkkräftigsten Einstellungen des Kinos zu einem siebenstündigen Loop verarbeitet. Ein anderes Beispiel: Isabella Rossellini, vom Kanadier Guy Maddin auf einen hölzernen elektrischen Stuhl geschnallt, dessen Spannung kontinuierlich anwächst. Size Matters lautet die Programmatik dieses Projekts: Es möchte - eher unironisch - auf die Allgegenwart von Screens hinweisen, die in Mini-Größe unser Leben durchdringen.

Aber iPhone ist eben noch lange nicht Kino. Rotterdam löst diese Frage auf seine Weise: Im ökonomischen Sinn kleine Filme werden auf großen Leinwänden gewürdigt. Das ist wichtig in einer Zeit, in der unabhängig produziertes Kino mit einem beständig schrumpfenden Verteilermarkt zu kämpfen hat.

Der Russe Alexej Balabanow hat dieses Problem noch nicht. Seine Filme kommen zwar mit geringer Kopienzahl ins Kino, halten sich dort aber oft monatelang - nicht zuletzt ein Resultat der Kontroversen, die sie auslösen. Mit Morphia hat Balabanow eine Art Anti-Doktor-Schiwago inszeniert. Er basiert auf autobiografischen Erzählungen des Schriftstellers Michail Bulgakow (Der Meister und Margarita), der als junger Mann im Umkreis von Smolensk als Arzt wirkte.

Ärztliche Grenzgänge

In emblematischen Szenen malt er das Bild eines vom sozialen Gefälle zerrissenen Russlands der Provinz, in dem der unerfahrene Dr. Polyakow (Leonid Bichevin) ständig an Grenzen stößt. Die Kapitel tragen Titel wie „Die erste Amputation" oder „Das Feuer": Dann folgt die plastische Beschreibung von medizinischen Notmaßnahmen und abenteuerlichen Rettungsdiensten, die behände in _ein umfassendes Gesellschaftsbild eingefasst werden. Nur mit Injektionen von Morphium vermag sich der Arzt die nötige Gelassenheit zu holen. Er wird zu seinem eigenen Patienten, während die Wellen der Oktoberrevolution auch in diese entlegene Gegend vordringen.

Den Wettbewerb bestimmt in Rotterdam freilich meist eine jüngere Generation. Aussichtsreicher Preis-Kandidat dürfte der Koreaner Yang Ik-June sein, der in Breathless von einem kleinen Gangster erzählt, dem seine Gewaltbereitschaft zur zweiten Natur geworden ist. Der Geldeintreiber kann keinen Satz ohne Schimpfwort und kein Gespräch ohne Ohrfeige beenden; auch der Begriff der „dysfunktionalen Familienverhältnisse" erhält hier eine neue Dimension. Das wahre Kunststück liegt aber anderswo: Yang gelingt es, einem Unbelehrbaren langsam wieder menschliche Züge zu verleihen. Er macht auch keinen falschen Kompromiss, wenn er an diesem Fall demonstriert, dass es für manche Umkehr einfach zu spät ist.

Im Rennen um einen Tiger-Award ist mit Caspar Pfaundlers Schottentor auch wieder einmal ein österreichischer Film. Der Verkehrsknotenpunkt am Wiener Ring gibt darin die Ordnung für eine Ansammlung von Figuren vor, die sich weniger begegnen als aneinander vorbei existieren. Pfaundlers Grundidee hat durchaus Potenzial: Wie füllt man einen urbanen Durchgangsort mit Sehnsüchten und eigenwilligen Beobachtungen von lauter Einzelwesen auf?

In der Durchführung erweist sich das Mittel der Introspektion jedoch als problematische Wahl - ein Blumenmädchen, ein verträumter Flaneur, ein Regisseur und seine Assistentin et cetera teilen dem Zuschauer lautstark ihre Innenwelt(en) mit. Anstatt Raum für freie Assoziationen zu lassen, führt das leider bald einmal zu massivem Gedankenstau. (Dominik Kamalzadeh aus Rotterdam/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29.1.2009)