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Die Befreiung Leningrads nach 900 Tagen Blockade wird alljährlich in historischen Szenen nachgestellt. Schätzungen zufolge starben bis zu 700.000 Menschen durch Bombardement, Hunger und Kälte.

Foto: APA/EPA/Malzew

Als sich Michail Bobrow noch als Schulbub fürs Bergsteigen begeisterte, ahnte er nicht, wofür es ihm später dienen würde. Im Zweiten Weltkrieg konnte er zusammen mit seinen Freunden vom Bergsteigerverein die historischen Bauten seiner Heimatstadt Leningrad vor der Zerstörung bewahren. Professor Michail Bobrow ist Ehrenbürger der Stadt, die heute wieder St. Petersburg heißt. Er unterrichtet an der Geisteswissenschaftlichen Universität der Gewerkschaften und erklimmt weiterhin die höchsten Berge der Welt.

Seine Erinnerungen an den Krieg und die Blockade von Leningrad, die vor genau 65 Jahren, am 27. Jänner 1944, endete, sind so frisch, als wären sie von gestern. Leid, Entbehrungen und Tod wurden zum Alltag. Doch nicht nur die furchtbare Hungersnot und die Kälte des ersten Kriegswinters sind Bobrow im Gedächtnis geblieben. "Wir haben damals eine sagenhafte Stärke und Geschlossenheit gefühlt", erinnert sich der Kriegsveteran. "Wir haben keine Minute daran gezweifelt, dass wir diesen Krieg gewinnen würden. Alle Menschen waren wie eine große einträchtige Familie."

Die fast 900 Tage dauernde Blockade von Leningrad begann am 8. September 1941, als die deutschen Truppen den Süden des Ladoga-Sees besetzten. Leningrad verwandelte sich in eine Frontstadt. Auf alle wichtigen Plätze der Stadt sowie auf Schulen, Krankenhäuser, Straßenbahnhaltestellen und Fabriken wurde regelmäßig das Feuer eröffnet. Die meisten Opfer forderten jedoch Hunger und Kälte.

Zu Kriegsbeginn hatte sich der damals 17-jährige Michail freiwillig gemeldet und wurde zu Aufklärungszwecken ins Hinterland der deutschen Truppen im Leningrader Gebiet abkommandiert. Als er nach fünf Einsätzen schwer verletzt wurde, kam Michail in ein Militärhospital nach Leningrad, wo ihn seine Freunde vom Bergsteigerverein fanden.

Das historische Zentrum von Leningrad befand sich in höchster Gefahr. Viele prägnante Bauten mit ihren Spitztürmen und die Kirchen mit ihren goldenen Kuppeln bildeten für die deutschen Kampfflieger und die Artillerie perfekte Ziele.

Zuerst habe totale Panik geherrscht, erzählt Irina Grintschenko, führende wissenschaftliche Mitarbeiterin des Museums für die Geschichte von St. Petersburg. Man dachte sogar daran, die wichtigsten Kulturdenkmäler zu zerlegen, was de facto ihre Zerstörung bedeutet hätte. Doch glücklicherweise wurde das Denkmalschutzkomitee eingeschaltet, wo Hobbybergsteigerin Natalja Ustwolskaja arbeitete. Ihre Idee war es, für die Tarnung der historischen Bauten Klettertechnik einzusetzen. Natalja fand rasch ihre Freunde aus dem Bergsteigerverein - Alja Prigoschewa, Olga Firsowa, Alois Sembo und den damals 18-jährigen Michail Bobrow.

"Zuerst nahmen wir uns die Isaak-Kathedrale vor, denn ihre markante Kuppel war für den Feind am besten zu sehen", erinnert sich Bobrow. Außerdem befanden sich dort die Schätze, die aus den umliegenden Zarenpalästen evakuiert worden waren. Die Bergkletterer bestiegen die Kuppel der Kathedrale und bemalten sie mit Tarnfarbe.

Bei vergoldeten Kuppeln und Türmen konnte man die Übermaltechnik aber nicht einsetzen, denn das Gold wäre beim Abwaschen zerstört worden. Deshalb wurden sie verhüllt. Die Arbeit am Admiralitätsgebäude mit seinem spitzen Turm sei besonders schwierig gewesen, erinnert sich Bobrow. Denn man wollte den wertvollen Kunstbau nicht durch die Haken der Kletterer beschädigen. Deshalb verwendete man Ballons, mit denen man den eine halbe Tonne schweren und wie ein Theatervorhang genähten Überzug nach oben beförderte und an der Spitze befestigte.

Mit der Kuppel der Peter-und-Paulskirche, deren Tarnung am 1. Dezember 1941 begann, ist Bobrows prägendste Erinnerung verbunden: "Niemand hat das Stadtpanorama jemals so gesehen wie meine Freunde und ich im Winter 1941/42: Die brennenden Häuser, die gerade abgeschossenen deutschen Flugzeuge und die Schiffe der baltischen Flotte, die Widerstand gegen den Feind leisteten. Ein tragisches, ein erschütterndes Bild einer heroischen Stadt, die sich mit letzter Kraft wehrte."

Am 12. Februar 1942, als die Arbeiten an der Kuppel zu Ende waren und Michail nach Hause kam, starb seine Mutter vor Hunger. Sein Vater starb ein Jahr später. Alja Prigoschewa und Alois Sembo haben die Blockade ebenfalls nicht überlebt. Olga Firsowa erkrankte an Skorbut. Mit einer anderen Gruppe Jugendlicher führte sie dennoch die Verhüllung der Kuppeln der St.-Michaels-Kirche zu Ende, während Michail Bobrow an die Kaukasus-Front abkommandiert wurde, wo die besten Bergsteiger der Sowjetunion und Deutschlands gegeneinander kämpften. (Tatjana Montik aus St. Petersburg/DER STANDARD, Printausgabe, 27.1.2009)