Recherchiert bald in der Unterwelt: Günter Wallraff.

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STANDARD: Die Wallraff-Methode gibt es nun seit rund 40 Jahren. Heute sind Sie aktiver denn je. Was hat sich verändert?

Wallraff: Ich kehre wieder zu meinen Anfängen zurück. Vieles ist schlimmer geworden und ungesicherter. Ich glaubte zu Beginn meiner Arbeit immer an den evolutionären Weg. Dass eine Gesellschaft sich in Phasen - zwar mit Rückschritten - zu besseren Möglichkeiten hin entwickelt, und dass ich daran einen kleinen Anteil als Beschleunigerteilchen haben würde. Inzwischen muss ich sagen, da ist etwas im freien Fall. Wir entwickeln uns in vielen Bereichen in frühkapitalistische Zustände zurück. Ich habe den Eindruck, dass ich da wieder ansetzen muss, und das mach' ich gerade. Zu meiner Verwunderung gelingt das.

STANDARD: Die Industrie ist immun gegen die Aufdeckung geworden, sie fürchtet sie nicht mehr?

Wallraff: Das würde ich nicht sagen. Was ich selbst merkwürdig finde: Die Prozesse bleiben aus. Im Gegenteil: Es kommt zu Verbesserungen. Das gab es früher nicht so schnell. Ich kriege jede Woche zahlreiche Zuschriften, darin schildern Arbeiter und zunehmend auch Anstellte üble Zustände. So viel war das früher nicht. Da schreite ich schon ein, und konfrontiere Firmen damit, drohe, mache Druck. Ich sage: Sie haben die Wahl: Wenn Sie das klar stellen, dann verzichte ich auf eine Veröffentlichung. Und siehe da: Es passiert was.

STANDARD: Ihr Name wirkt.

Wallraff: Ja. Es hat sich offenbar herumgesprochen, dass ich all meine Prozesse gewonnen habe. Nach meiner Recherche im Callcenter forderte ich die Verantwortlichen sogar auf, gegen mich zu prozessieren. Dann haben die in ihrem Branchendienst geschrieben: Nein, den Gefallen tun wir ihm nicht. Sie haben mir schon einen Gefallen getan. Ich bin nicht erpicht auf Prozesse. Sie kosten Zeit und Geld und verzögern meine Arbeit.

STANDARD: Hat sich Ihr Selbstverständnis verändert?

Wallraff: Ich bin nicht mehr so ungeduldig. Das Sisyphus-Prinzip, es trotzdem zu machen, auch wenn ich scheinbar scheitere, weil sich die erreichten Verbesserungen in den Betrieben wieder zurück entwickeln, das hat mich früher mehr entmutigt. Inzwischen ist es eine Lebenshaltung geworden, es trotzdem zu machen. Es motiviert mich, es macht wieder Spaß. Ich weiß jetzt, dass das für mich die einzige Möglichkeit ist, mich einzubringen, mich zu spüren, meinem Leben einen Sinn zu geben. Ich habe den Eindruck, ich werde wieder gebraucht. Inzwischen kommen sogar Manager zu mir, wenn sie auf der Strecke geblieben sind.

STANDARD: Da bietet sich eine verdeckte Recherche von oben an?

Wallraff: Ich komme da nicht direkt rein. Aus Tiefstapelei weitgehend, aber wenn es gelingt: Warum eigentlich nicht. Im Moment tauche ich wieder ab in die Niederungen.

STANDARD: An welchem Thema sind Sie im Moment dran?

Wallraff: Ich tauche vor Weihnachten bis Mitte Neujahr in die Unterwelt ab. Demnächst gibt es einen Kinofilm, da war ich in ganz Deutschland unterwegs. Ein leiser Film, in dem es um die Befindlichkeit in diesem Land geht.

STANDARD: Wie geht's zu in der schönen, neuen Arbeitswelt?

Wallraff: Die Angst geht um. In vielen Branchen herrscht eine Willkür, da fühlten sich viele wie im Straflager. Bei meiner letzten Recherche in der Brotfabrik, sagten Kollegen zu mir: Hoffentlich werden wir bald entlassen. Ich fragte: Warum kündigst ihr denn nicht? Dann kriegen wir eine Sperre vom Arbeitsamt. Das ist wie Zwangsarbeit. Beim Callcenter werden die Leute hin verpflichtet, obwohl sie zu Betrügern ausgebildet werden. Aber sie können nicht ablehnen, sonst kriegen sie die Sperre. Mit Langzeitarbeitslosen kann man machen was man will.

Wir hatten einen Wirtschaftsminister Clement, der schamlos der Leiharbeiterbranche alle Gesetze nach ihren Wünschen zugeschnitten hat. Jetzt wurde er von diesem Verband in den Dienst genommen, und er kassiert ein unverschämtes Salär. Ich bin Wechselwähler, den Grünen nahestehend; aber zwischendurch war ich auch der SPD zugetan. Für mich hat diese Partei mit Schröder ihre sozialen Wurzeln gekappt und ihre Seele verkauft.

STANDARD: Die Leiharbeiterbranche spürt die Krise. Was spielt sich da ab?

Wallraff: Verzweiflung. Da herrscht völlige Rechtlosigkeit. Menschen, die wie Ware angemietet werden, als Lückenbüßer, Manövriermasse. Die sind die ersten, die jetzt auf der Strecke bleiben. Ich habe da auch schon einiges recherchiert, kann aber darüber nicht reden

STANDARD: Was können Sie angehenden verdeckten Rechercheuren für Tipps geben?

Wallraff: Vieles vergessen, was man gelernt hat. Zeit braucht man, sich voll darauf einlassen, zuhören können., nicht sein eigenes bisheriges Vorwissen meinen anderen aufzwingen zu müssen. Nächstenliebe, ein pathetisches Wort, abstrakter formuliert heißt das Solidarität. Die Verwertbarkeit ist erst im Hintergrund, wenn es dann gelingt, es zu veröffentlichen, umso besser.

STANDARD: Dazu braucht es einen gewissen finanziellen Background.

Wallraff: Es macht vieles einfacher. Ich hatte den lange nicht, deshalb bin ich dabei, eine Stiftung zu gründen, wo jüngere Journalisten freigestellt werden, die sich auf solche Themen einlassen. Wenn das eine Bewegung wird, kann das auch eine gesellschaftsverändernde Wirkung haben. Davon bin ich überzeugt.

STANDARD: Was muss der Nachwuchs beachten, um nicht aufzufliegen?

Wallraff: In meinen frühen Jahren hatte ich in den Fabriken den Spitznamen Student weg, obwohl ich nie studiert habe. Heute bin ich integriert, ich falle überhaupt nicht auf. Ich muss mich nicht groß verstellen. Früher war die Trennung in Arbeiterschaft und Studierte sehr viel strikter. Der Begriff Prekariat umfasst alle Bevölkerungsschichten.

STANDARD: Ist das für Sie noch ein Kriterium: Aufzufliegen?

Wallraff: Ich habe immer noch Angst, dass ich entdeckt werde. Davon träume ich sogar. Wenn ich eine neue Identität annehme, träume ich nach mehreren Wochen bereits in der neuen Identität. In der Großbäckerei, die auf Gedeih und Verderb vom Großdiskonter Lidl abhängig ist hat mich übrigens jemand erkannt, es aber für sich behalten. Der fand das gut. In meinem nächsten Kinofilm, über den ich noch nicht sprechen kann, hat mich jemand erkannt. Das war ein Schock, denn der lief mir mit dem Handy hinterher und wollte mich fotografieren.

Es wäre alles kaputt gewesen, wenn das in der "Bild"-Zeitung erscheint. Ich notierte mir dessen Autonummer und habe es geschafft, ihn zu identifizieren. Nach einer unruhigen Nacht habe ich ihn am nächsten Tag besucht. Zum Glück war das jemand, der meine Bücher gut fand und mir versprach, zu schweigen.

STANDARD: Inzwischen müsste Sie halb Deutschland erkennen?

Wallraff: einem Hilfsarbeiter schaut man nicht ins Gesicht. Es ist erstaunlich, weil mit dem Verkleiden halte ich mich nach wie vor zurück. Das muss in der Früh schnell gehen, in fünf Minuten stehen. Ein Verfassungsschutzpräsident hat mir gesagt, ich hätte ein nur schwer zu observierendes "Allerweltsgesicht".

STANDARD: Wie sind die Arbeitsbedingungen in den großen Medienhäusern?

Wallraff: Das ist ein Thema für sich. Der Beruf Praktikant nimmt zu, aufgrund von Auflagenschwund kommt es zu einem Überlebenskampf. Da sind viele, die um ihren Job zittern und die Zeit gar nicht mehr haben, bestimmte Themen investigativ zu behandeln. In Deutschland macht nach wie vor eine beherrschende Boulevardzeitung Stimmung; stellt Menschen an den Pranger und betreibt systematisch Hetze.

STANDARD: "Bild" ist nicht harmloser geworden?

Wallraff: Unter dem jetzigen Chefredakteur ist es wieder ein politisches Kampfblatt geworden, zumindest wenn eine Wahl ansteht.

STANDARD: Eine verdeckte Recherche, die Sie unbedingt angehen wollen?

Wallraff: Als Lobbyist eines mächtigen Wirtschaftsverbandes in einem Ministerium arbeiten, um zu sehen wie ich dort Interessen bis in die Gesetzesvorlage hinein manipulieren kann. (Doris Priesching, DER STANDARD; Printausgabe, 17.12.2008, Langfassung)