Der Bildpunkt. Zeitschrift der IG BILDENDE KUNST erscheint vier Mal im Jahr. Jede Ausgabe widmet sich einem Themenschwerpunkt. Zentral sind dabei ästhetische, aktivistische und theoretische Strategien samt ihrer gegenseitigen Verschränkungen und Überschneidungen. Drei künstlerische Positionen brechen jeweils das Textmonopol. Thema der aktuellen Ausgabe: "Die Macht des Faktischen"

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Isa Rosenberger: "Zu Beginn einer als Dokumentation angelegten Arbeit steht zum Beispiel die Überlegung, welche Rolle ich einnehme."

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Doron Rabinovici: "Der Umgang mit der Vergangenheit erfordert, dass die Kontinuitäten und Verbindungen bloßgelegt werden."

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 Unter dem Titel Die Macht des Faktischen möchten wir mit dem Bildpunkt Fragen nach einer Politik der Wahrheit stellen. Das Dokumentieren ist eine Praktik par excellence, wenn es um die Schnittstellen von Kunst und sozialen Bewegungen geht: Verhältnisse der Ungerechtigkeit werden aufgezeichnet und gesammelt, um sie öffentlich, sichtbar und angreifbar zu machen. Vom Realismus des 19. Jahrhunderts über die sozialdokumentarische Fotografie hat das Dokumentieren auch eine lange und kritische Tradition innerhalb der Kunst. Allerdings waren dokumentarische Praktiken immer auch Teil staatlicher und wissenschaftlich-kriminologischer Klassifikationen. Was kann durch eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit in der Kunst entstehen? Was kann bewirkt werden? Mit welchen Mitteln und unter welchen Voraussetzungen?

Bildpunkt: Doron, du bist sowohl Historiker als auch Schriftsteller. Wie würdest du den Unterschied in der Arbeit mit Dokumenten und jener mit Fiktion beschreiben? Können diese beiden Seiten deiner Arbeit für einander produktiv werden?

Doron Rabinovici: Wenn der Historiker spricht, dann werden Erwachsene gläubig, als wären sie Kinder, denn er beginnt zu reden, als würde er ein Märchen erzählen: Es war einmal... Der "gute" Historiker weiß, dass es hier um eine Konstruktion geht, um ein Narrativ. Es gibt allerdings auch in der Geschichtswissenschaft die Möglichkeit, sich dem Geschehenen mit der Frage zu widmen, was gewesen sein könnte. Der Schriftsteller hingegen erzählt, wie es gewesen sein wird. Das bedeutet, dass er sagt, wie es für die einzelnen gewesen sein wird, aber auch, wie es gesehen sein wird. Der Historiker nähert sich dem, was geschehen ist, und das hat hinsichtlich der nackten Untaten und Fakten auch seine Berechtigung. Er beschränkt sich dabei allerdings in der Regel auf die Darstellung und die Sprache der Täter.

Wenn es um die nationalsozialistische Vergangenheit geht, wird dieses Problem noch potenziert, es besteht aber auch jenseits dieser Geschichte. Über die Vernichtungskapazität der Gaskammer lässt sich nicht reden, ohne die Instrumentarien der Täter zu verwenden.

Dem Schriftsteller bietet sich die Möglichkeit, mit der Sprache in der Sprache und in der Sprache gegen die Sprache zu arbeiten, und so aufzudecken, was im Kontext des Historikers als Polemik diffamiert werden würde. Der Schriftsteller kann auch schreiben, was mit dem geschehen könnte, was geschehen ist. Man kann also einen Roman über die Vergangenheit in die Zukunft verlegen und es wird ein Buch zur Gegenwart.

Bildpunkt: Isa, du beschäftigst dich in deinen künstlerischen Arbeiten mit marginalisierten Geschichten und ihrer Sichtbarmachung. Wie viel künstlerische Freiheit ist dir für deine Arbeit am Faktischen wichtig?

Isa Rosenberger: In meiner Auseinandersetzung mit dem Dokumentarischen geht es unter anderem sehr stark um die Frage nach alternativen Wirklichkeiten. Es geht häufig darum, ein Narrativ zu konstruieren, um deutlich zu machen, wer aus welcher Position heraus spricht und in welcher Rolle er oder sie dies tut. Zu Beginn einer als "Dokumentation" angelegten Arbeit steht zum Beispiel die Überlegung, welche Rolle ich einnehme, agiere ich als Touristin, Regisseurin etc. und wie gehe ich davon ausgehend auf die Dargestellten zu. Die Schnittstelle von Fiktion und dem Dokumentarischen ist also das, was mich interessiert, um das Authentische auch immer wieder unterlaufen zu können.

Bildpunkt: Uns interessiert auch die Frage nach der indexikalischen Qualität, dem Rest an Wirklichkeitsanbindung, den jede dokumentarische Strategie für sich beansprucht: Was ist das für eine Arbeit an der Wirklichkeit (die zugleich eine gegen die Wirklichkeit ist)? Wodurch unterscheidet sich eine solche Strategie von reiner Fiktion. Und umgekehrt: Wodurch unterscheiden sich künstlerische Narrationen, Kompositionen, Montagen und Fiktionalisierungen von illegitimen Revisionismen?

Rabinovici: Es geht darum, die Bedingungen der Arbeit zu deklarieren, also auch darzulegen, von wo aus Geschichte neu konstruiert wird. Wenn ich ein Buch schreibe über Transplantation heute und erfinde einen Organhandel, den es gar nicht gibt, aber es wird durch meine Arbeit auch klar, dass ich gar nicht beanspruche, dass es ihn gibt, dann verweist diese Arbeit auf die Narration. Sie unterscheidet sich aber sehr wohl vom Sensationalismus der Medien oder anderen Geschichten, mit denen die Realität zugekleistert werden soll.

Eine Form dieses Zukleisterns kann aber etwa eine Kitschgeschichte inmitten eines Massenmordes sein. Auch diese Strategie mündet letztlich in der Zerstörung dessen, was geschehen ist, um Sinn zu stiften.

Rosenberger: In meiner Arbeit verwende ich immer wieder historische Archivmaterialien. Dabei betrachte ich dieses Material als Ausdruck hegemonialer Wahrheitsdiskurse und versuche, diese hegemoniale Geschichte als solche sichtbar zu machen und zu durchkreuzen, indem ich subjektive Geschichten dagegen stelle.

Rabinovici: Das Interessante ist ja auch, dass dieser andere Blick, den Du angesprochen hast, diese Möglichkeit, in der Kunst und der Literatur eine andere Wirklichkeit zu erschaffen, oft viel deutlichere Wahrheiten ermöglicht.

Bildpunkt: In dieser Erschaffung der Fiktion liegt aber, wie in der Betonung des Konstruktionscharakters der Wirklichkeit, immer auch eine Gefahr, nämlich die, die Du vorhin selbst angesprochen hast, nämlich zugunsten von Sinnstiftung über das reale Geschehen hinwegzugehen.

Rosenberger: Hier geht es doch auch um das Recht auf die eigene Wahrheit. Die hegemonialen Wahrheiten tendieren ja immer dazu, die anderen Wahrheiten auszulöschen. Für mich liegt darin ein emanzipatorisches Potenzial, die eigene Wirklichkeit zu behaupten. Hito Steyerl spricht in diesem Zusammenhang von einer Ethik der "Politik der Wahrheit". Sie betont damit die eigene Verantwortung für die Verortung innerhalb der Wahrheitspolitiken, und das scheint mir ein sehr interessantes Moment zu sein. Es geht also um die Aneignung der eigenen Wirklichkeit.

Rabinovici: Ich denke, dass es wichtig ist, die Produktionsbedingungen zu thematisieren. Das gilt sowohl für das Geschichtenerzählen wie auch für das dokumentarische Arbeiten. Die Arbeit mit diesem Thema ist von vornherein mit einem Scheitern verbunden und das Scheitern selbst muss Thema sein.

Bildpunkt: Den Konstruktionscharakter von Geschichte zu betonen, gehört heute bereits zum Mainstream von Museums- und Erinnerungsdiskurs. Ein gutes Beispiel dafür ist die Neuaufstellung des Deutschen Historischen Museum, in dem der Bombenkrieg als subjektive Geschichte erzählt und in die eigentliche Tätergeschichte der Deutschen als individuelle Leidensgeschichte hineingetragen wird. Zu fragen ist gerade deshalb, worin der Unterschied liegt zwischen einer rechten Aneignung des Konstruktivitätsdiskurses und einer linken, antihegemonialen Sichtbarmachung von Wirklichkeiten, die aus der hegemonialen Geschichte ausgeschlossen sind.

Rabinovici: Ein wichtiges Buch ist für mich in diesem Zusammenhang Kitsch und Tod von Saul Friedländer, in dem er aufzeigt, wie die Darstellung der Vernichtung Bilder und Klischees der Mörder verwendet.

Aber es bleibt ein wichtiges Problem, dass ich einerseits durch einen Vergleich eine Sache relativiere, dass ich sehr schnell beim Gleichsetzen bin und dass ich andererseits, wenn ich nicht zu vergleichen bereit bin, das Geschehen der Geschichte enthebe. Das bedeutet, dass der Umgang mit dieser Vergangenheit erfordert, dass die Kontinuitäten und Verbindungen bloßgelegt werden - ohne allerdings dabei in Selbstheroisierung zu verfallen. Eine Identifikation mit den Opfern ist - wie mit den Tätern sowieso - eine Falle.

Rosenberger: Ich stimme dem voll und ganz zu, möchte aber noch ergänzen, dass in diesem Prozess zudem das Verhältnis von Subjekt und Objekt zu beachten ist, also die Frage, wer spricht auf welche Weise zu wem und über wen. In meinem Projekt Ein Denkmal für das Frauenzentrum (The Making of) habe ich mit entlassenen, ostdeutschen Arbeiterinnen zusammengearbeitet, die nach dem Fall der Mauer immer als Verliererinnen dargestellt wurden. Hier ging es eindeutig darum, diesen Opferstatus zurückzuweisen. Eine Chance des Dokumentarischen besteht für mich deshalb darin, die Zuschreibungen zu verweigern.

Dabei stellt sich für mich auch die Frage nach der Form, die Wahrnehmungskonventionen steuert und beeinflusst und an der es deswegen zu arbeiten gilt. Die Präsentationsform kann möglicherweise auch wieder andere Formen der Sichtweise hervorbringen.

Bildpunkt: In dieser Verweigerung von Bildern, die auf Mitleid zielen, die Du angesprochen hast, ließe sich schließlich auch eine Gemeinsamkeit ausmachen zwischen solchen linken Aneignungsversuchen, die eine Vernichtung dokumentieren und das Gedächtnis an sie wach halten wollen und solchen, die auf Ermächtigung zielen.

(Das Gespräch wurde am 6. Oktober 2008 in Wien von Nora Sternfeld und Jens Kastner geführt und in Absprache mit den Beteiligten gekürzt und überarbeitet. - Eine Zusammenarbeit von Bildpunkt und derStandard.at/Kultur.)