Der knappe Absatz über nationale Volksabstimmungen in Europa-Angelegenheiten im Kapitel Europapolitik ist keineswegs so dramatisch, wie uns manche Kommentatoren des Regierungsprogramms 2008 glauben machen wollen. Die in höchste vormalige Regierungshöhen nachgeplapperte Metapher von der künftigen Europapolitik als "eingebautem Selbstzerstörungsmechanismus" der Koalition zeugt zwar von einer unerwarteten Popularität dieses Sicherheitsinstruments mancher Sparten der Rüstungstechnologie, aber nicht von tieferer Einsicht in den Regelungsbedarf von Koalitionsabkommen.

Denn im Anschluss an Erich Kästners Weisheit von der Lebensgefährlichkeit des Lebens ist gleichermaßen von einer "Koalitionsgefährlichkeit der Regierungskoalition" zu sprechen. Das gilt für viele der zahlreichen im Übereinkommen angesprochenen Politikbereiche mit durchaus näherliegender Brisanz als einem Konflikt über eine weitere Änderung der Gemeinschaftsverträge in den nächsten fünf Jahren.

Mit Irland wird man sich, wenn überhaupt, vermutlich auf einer Ebene einigen, die ohne neuerliche Änderung des Primärrechtes bewältigt werden kann. Irland wird sich seine Neutralität einmal mehr gesondert absichern lassen - was aus Sicht des österreichischen Neutralitätseiertanzes beträchtlichen Unterhaltungswert hätte - und auf einen irischen Staatsangehörigen in der Kommission bestehen. Besonders Letzteres wird man mit größter Bereitwilligkeit gewähren, weil die Reduktion der Zahl der Kommissionsmitglieder unter jene der Mitgliedstaaten ohnehin vielen EU-Regierungen auf der Seele lastet.

Doch zurück: Es ist daher nur folgerichtig, dass die im Kapitel Europapolitik (S. 227) verwendete Formulierung nahezu deckungsgleich jener im Kapitel "Gemeinsam arbeiten" (S. 6/7) entspricht. Wenn daher eine der beiden Regierungsparteien gegen den Willen der anderen gemeinsam mit der Opposition für eine Volksabstimmung in Sachen EU stimmt, dann ist sie verpflichtet, der Selbstauflösung des Nationalrates und damit Neuwahlen zuzustimmen.

Auch wenn es nicht gleich auffällt, so bedeutet dies eine Erweiterung des Handlungsspektrums der österreichischen EU-Politik. Denn verfassungsrechtlich war eine nationale Volksabstimmung über künftige Änderungen der Gemeinschaftsverträge für die nächsten fünf Jahre schon immer zulässig. Nunmehr aber wird sie entweder im Einvernehmen der Regierungspartner oder im Konfliktfall mit der Konsequenz von Neuwahlen auch politisch denkmöglich.

Das könnte zu einer Entkrampfung der bisher ohne Not aufgebauschten Polarisierung über die gelegentliche Einbeziehung der Wählerschaft, dem eigentlichen Souverän unseres Landes, in grundsätzliche und gewichtige europapolitische Weichenstellungen führen. Noch im heurigen Frühjahr wurde ja ein solcher Gedanke in der parlamentarischen Debatte über den Vertrag von Lissabon von Rot und Schwarz unter Mitwirkung der Grünen unisono als europapolitischer Sündenfall geradezu exorzistisch verdammt.

Wenige Monate später, am 21.Juli, wird in Frankreich eine seit langem vorbereitete große Verfassungsnovelle beschlossen. Unter anderem schreibt sie im neu gefassten Art. 88 (5) für alle künftigen Erweiterungsverträge eine Volksabstimmung vor. Es sei denn, die Nationalversammlung und der Senat beschränken sich übereinstimmend in getrennten Verfahren jeweils mit Dreifünftelmehrheit auf eine (vereinfacht gesagt) parlamentarischen Genehmigung.

Von dieser Neureglung immerhin durch die EU-Präsidialmacht wurde in Österreich auf Regierungsebene - und auch darüber hinaus - keine Notiz genommen. Selbst die bisherige Außenministerin, sonst stets bereit, sich als Hüterin der österreichischen EU-Ergebenheit zu beweisen, hat sich verschwiegen, ohne die Grande Nation wegen dieses in ihren Augen gewiss schlechten Beispiels zu rügen.

Stirnrunzeln über Balkan

Apropos Erweiterung! Zu guter Letzt ein Stirnrunzeln! Auf S. 225 des EU-Kapitels outen sich die Koalitionsparteien mit einer besonderen historischen Ansage. Der letzte Absatz beginnt dort mit dem Vorspann: "Wiedervereinigung Europas". Dahinter findet sich, von der privilegierten Behandlung Kroatiens abgesehen, eine völlig undifferenzierte Zusammenfassung aller Balkanstaaten als EU-Beitrittskandidaten.

Jenseits aller sich dabei aufdrängenden Anmerkungen bleibt offen, ob mit der "Wiedervereinigung Europas" bloß eine unspezifische Redensart oder ein operatives Handlungsprinzip gemeint ist. Offen ist auch, wieso eine allfällige Aufnahme der Türkei (S. 226), nicht aber die EU-Erweiterung um die Balkanstaaten einer Volksabstimmung unterzogen werden soll.

Die Regierungserklärung wird es uns erklären. (Manfred Rotter/DER STANDARD Printausgabe, 2. Dezember 2008)