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Dass das Wünschen nichts hilft, dafür bietet die österreichische Politik stets reiches Anschauungsmaterial. Trotzdem ist es nützlich, von Zeit zu Zeit die Bedingungen, die unter der Smogglocke des hiesigen Common Sense herrschen, mit der Realität da draußen zu vergleichen.

Nehmen wir also einfach einmal an, in Österreich würde seit der Nationalratswahl ernsthaft Politik gemacht. Wenn zum Beispiel die FPÖ ernsthaft Politik machte - nein, das lassen wir lieber: Eine Partei in diesem Zustand ist dazu schlichtweg nicht in der Lage. (Was sie hierzulande freilich nicht davor feit, so behandelt zu werden als ob.)

Rote Blendung

Wenn die SPÖ ernsthaft Politik machte, dann hätte Alfred Gusenbauer sich zwar vor der Wahl lieber die Zunge abgebissen, als zu versprechen, seine Partei werde in Opposition bleiben, falls sie Zweite wird; nach der Wahl allerdings hätte die SPÖ keine Sekunde daran gedacht, mit der ÖVP eine Koalition einzugehen, und zwar, gelernte Österreicher bitte langsam und vorsichtig weiterlesen, aus der demokratiepolitischen Überzeugung heraus, dass eine Regierung, die im Parlament über einen Rückhalt von mehr als 80 Prozent verfügt, unerträglich ist. Von wegen "große Reformen"! Eine 80-Prozent-Regierung hat auf die Demokratie eine Wirkung wie eine Dampfwalze auf Augarten-Porzellan; so sieht man das zumindest in entwickelten westlichen Ländern.

Würde in Österreich ernsthaft Politik gemacht, so höbe das über kurz oder lang auch das Niveau des Journalismus; und es wäre ganz und gar undenkbar, dass selbst versierte und für hiesige Verhältnisse demokratiefeste Kommentatoren just jene Dampfwalzen-Regierung für eine seriöse Möglichkeit gehalten, ja präferiert hätten.

Wenn die Grünen ernsthaft Politik machten, dann hätten sie nach der Wahl nicht sage und schreibe Wochen abgewartet (dasselbe taten übrigens auch SPÖ und FPÖ), bis der Kanzler in dem ihm eigenen Tempo endlich seine Koalitionsbedingungen formuliert hatte; sondern sie hätten sofort ihre Bedingungen bekannt gegeben.

Es wären harte Bedingungen gewesen - die die eigene Basis nicht nur beruhigt, sondern ihr auch die Befürchtungen genommen hätten, die Parteispitze könnte sich von Schüssel über den Tisch ziehen lassen. Und es wären intelligente Bedingungen gewesen: Die ÖVP hat schon in ihrer ersten Regierung mit der FPÖ die Verletzung demokratischer Grundwerte teils geduldet, teils aktiv betrieben (was bei den meisten "innenpolitischen Beobachtern" auf gähnendes Desinteresse gestoßen ist - wen interessiert heute noch, welche Folgen die Vertuschung der Spitzelaffäre für die Rechtskultur gehabt hat, ist doch seit Monaten kein "Thema" mehr?).

Grüner Irrtum

Die Grünen hätten klar definieren müssen, in welchen Punkten die erste schwarz-blaue Regierung solche Tabus gebrochen hat - und in genau diesen Punkten die Rückkehr zur demokratischen Normalität fordern müssen. Verhandlungen darüber wären ausgeschlossen gewesen; die ÖVP hätte bedingungslos zuzustimmen gehabt, Wahlsieg hin, Wahlsieg her: Vitale Fragen der Demokratie sind keinem Kompromiss zugänglich.

Dazu hätte etwa gehört: der Verzicht auf jegliche Subvention von Rechtsextremen, namentlich unter dem Titel der Presseförderung; ein Kartellrecht mit Biss, selbstverständlich mit Entflechtung des Formil-Krokuwaz-Giganten; die minutiöse Durchleuchtung der gesamten Tätigkeit, die das Justizressort unter Dieter Böhmdorfer entfaltet hat, am besten durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss; die Rücknahme des Strasserschen Programms zur Förderung der Obdachlosigkeit von Asylwerbern; oder die Schaffung eines realistischen Prozedere zur Amtsenthebung politischer Funktionsträger, die sich weigern, Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes Rechnung zu tragen. Ach ja, und die Wiederbelebung des "Muffs von tausend Jahren" der Ordinarienuniversität wäre rückgängig zu machen gewesen; von der Vorstellung, dass die Stimmen von Honoratioren mehr zählen als die der Misera Plebs, hat man sich eigentlich um 1900 verabschiedet.

Nicht zu den Koalitionsbedingungen gehört hätte, wenn die Grünen nur Politik machten, der Verzicht auf Abfangjäger, auf Studien- und Ambulanzgebühren; derlei mag man mit guten Gründen und mit Leidenschaft fordern, aber die Demokratie hängt nicht daran, und bei allen Fragen, die die Demokratie eben nicht substanziell betreffen, wird sich, wenn man eine Koalition schließt, einmal die eine und einmal die andere Partei durchsetzen; so what?

Wenn die Grünen ernsthaft Politik machten, dann wären weder Van der Bellen (nach der Wahl) noch die Wiener Landesgruppe (bis zuletzt) in die nostalgische Sehnsucht nach der SPÖ verfallen, die die österreichische Linke seit Jahr und Tag lähmt. Die Grünen hätten sich doch daran erinnern dürfen, dass zum Beispiel im Innenressort (von der Asylpolitik bis zu den Bürgerrechten, Stichwort Rasterfahndung) die SPÖ es war, die den lästigen demokratischen Zuständen ein unrühmliches Ende bereitet hat.

Schwarzes Desaster

Und wenn schließlich die ÖVP (der Rest der Partei, außer Schüssel) ernsthaft Politik machte, dann zöge sie daraus, dass Schüssel zwar die Wahl gewonnen, aber die Regierungsverhandlungen verloren hat (just umgekehrt wie 1999/ 2000), die einzig mögliche Konsequenz: Schüssel abzusetzen. Der Mann ist kläglich gescheitert, und er muss, wenn diese Partei sich selber ernst nimmt, weg.

Ja, auch jetzt noch: Besser der große Crash kommt gleich (am besten, bevor die neuen Minister ihre Büros beziehen) als bei der nächsten Wahl. Denn Wolfgang Schüssel steuert die Volkspartei in ein Desaster: Die Zweitauflage von Schwarz-Blau wird nur sehr kurz halten; danach wird es Neuwahlen geben, und die ÖVP wird ganz fürchterlich verlieren.

Wenn die ÖVP das nicht will (und das wollte sie nicht, machte sie nur ernsthaft Politik), dann ist die Marschroute klar: Die Koalition mit den Grünen war fast ausverhandelt, es braucht nur ein bisschen guten Willen. Das einzige Hindernis für die ÖVP, von ihrem historischen Stimmengewinn länger als ein paar Monate zu profitieren, heißt Wolfgang Schüssel.

Nein, natürlich wird die ÖVP diese Konsequenz nicht ziehen. War ja alles nur ein Gedankenspiel. (DER STANDARD, Printausgabe, 1./2.3.2003)