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Der burgenländische Theaterdenker Josef Szeiler im Genfer Grütli-Theater: „Theater ist immer noch ein Ort der Utopie!" Verschwendet wird die kostbare Ressource Zeit.

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Im eher unaufregenden Genfer Kulturleben fällt seit drei Jahren das Théâtre du Grütli unter den beiden Kodirektorinnen Maya Bösch und Michèle Pralong als Ort der Recherche und Kreation für freie Theatergruppen auf. Jede Spielzeit steht unter einem Leitthema, in der Saison 08/09 wird zu „Chaos" im „Fokus Heiner Müller" produziert. Insgesamt fünf Theatergruppen wurden dazu eingeladen. Bühnenbildner Mark Lammert, der seinerzeit auch mit Heiner Müller zusammengearbeitet hat, teilt die „Black Box" mit einer verschiebbaren Wand in fünf gleich große Einheiten. Nach jeder Produktion kommt eine Einheit - farblich umgestaltet - dazu. Erst die letzte Gruppe hat demnach den kompletten Raum zur Verfügung.

Bereits zum zweiten Mal gastiert ein langjähriger Weggefährte Heiner Müllers im Grütli: Josef Szeiler, Begründer der in den 1980er Jahren legendären Wiener Avantgarde-Formation Theater Angelus Novus. Nach deren Auflösung 1988 inszenierte Szeiler in Tokio und am Berliner Ensemble und gründete in Wien das Theatercombinat mit Claudia Bosse.

In „Configuration HM" in Genf spielen nun sechs Schauspieler mit elf Texten Heiner Müller in Deutsch und Französisch, bis Mitte Dezember werden sie zum erprobten Material improvisieren, Dauer und Ablauf der jeweiligen Performances sind völlig offen. Je nach Dafürhalten wird Szeiler eingreifen oder auch nicht. Die Erfahrungen der Akteure und Zuseher werden in der Folge Gegenstand der beiden Diskussionstage „Im Fokus Heiner Müller" am 12. und 13. Dezember im Grütli sein.

Szeiler ist überzeugt davon, dass Theater nicht unterhalten soll: „Ich glaube immer noch, dass Theater ein tendenziell utopischer Ort ist, eine ‚utopische Oasis der Gesellschaft‘, wie Jürgen Habermas das nennt. Aber die eigene Energie, die Möglichkeiten und das personelle Umfeld verändern sich natürlich, wenn man älter wird."

Körperliche Kommunikation

„Selbstverständlich soll man lachen und sich amüsieren, aber dafür gibt es ja genügend Institutionen. Unterhalten will heute auch das sogenannte experimentelle Theater, das quasi zur Marke verkommen ist. Mir geht es aber um eine spezifische Form körperlicher Kommunikation, die man nur am Theater haben kann, um ein spezifisches Verhältnis von Zeit und Zeitdauer. Nach wie vor glaube ich, dass Theater nicht ,Alltag‘ sein darf, sondern ein Luxus ist. Theater ist ein Ort der Zeitverschwendung, diesen Moment liebe ich am Theater." Szeiler arbeitete in Japan und Europa, aber kaum in Österreich. „Ich habe 1998 das Theatercombinat mit Claudia Bosse gegründet und alle wesentlichen Erfahrungen von Angelus Novus dort eingebracht.

Ohne Theater Angelus Novus hätte es das Theatercombinat nie gegeben. Es war schwierig, Leuten, die die Arbeit von Angelus Novus nicht kannten, diese unübliche Arbeitsweise nahezubringen. Dazu gehört auch eine biologische Gleichwertigkeit im Sinne von ähnlichem Alter. Eine Differenz von 20, 30 Jahren ist schlecht, wenn man nicht als der weise Onkel dastehen möchte. Denn natürlich ist man mit fortschreitendem Alter mit der Eigenschaft geschlagen, alles schon zu kennen. Das ist eine völlig unproduktive Haltung."

Das Schaffen junger Theaterleute beurteilt er kritisch: „Mein Vorbild war Peter Stein. Seine Gene_ration, vom klassischen Theater kommend, wollte ein anderes Theater machen, was natürlich mit dem weltpolitischen Umfeld zu tun hatte. Heute ist auch die freie Szene institutionalisiert. Die Jungen streben ein fixes Theaterhaus an oder wollen in ein Veranstaltungshaus, wie in ein Bordell. Das wäre mir als junger Mensch unbegreiflich gewesen. Ich wollte meine Freiheit und kein bürokratischer Verwalter werden. Und schließlich zählen heute der Gag und das Entertainment, aber nicht der Entwurf. Wobei daraus ja ,Work in Progress‘ wurde, auch so ein Übel." (Barbara Freitag aus Genf/ DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18. 11. 2008)