Askold Melnyczuk (55) unterrichtet Creative Writing und Belletristik an der University of Massachusetts in Boston.

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Wien - "Das Witwenhaus" beherbergt die Frage, was aus der Geschichte zu lernen ist, außer dass man aus ihr, wenn irgendwie möglich, desertieren soll. In seinem neuen Roman lässt Askold Melnyczuk (55), amerikanischer Autor ukrainischer Abstammung, einen jungen Historiker aus Boston nach seinen Wurzeln in Europa suchen. Durch den mysteriösen Selbstmord seines Vaters angetrieben, stößt er in den Neunzigerjahren zwischen Oxford, Wien und Kiew auf ein Flechtwerk an Liebes- und Hassbeziehungen. Wer den Weltkrieg überlebt hat, macht sich auf Wege, die in politische und moralische Abgründe führen. Die Großmutter des Ich-Erzählers hat ein Bordell geführt, dessen Luxus-Ableger in der Ukraine floriert und - obwohl er praktisch nicht vorkommt - dem Buch den Titel gibt. Im Wien der Gegenwart blickt die mittlerweile an der US-Botschaft angestellte Hauptfigur auf ihr bisheriges Leben und auf mögliche nächste Verwicklungen. Hier, am Karmelitermarkt, spricht auch Melnyczuk über sein Buch.

STANDARD: Woher kam Ihr Interesse an der Geschichte insbesondere Osteuropas, die nach 1989 aufgebrochen ist?

Melnyczuk: Ich wehrte mich viele Jahre gegen autobiografisches Schreiben. Eher ließ ich mich von Kafka inspirieren, dessen namenlose Figuren Schicksale haben, die egal wo passieren können. Erst in den Achtzigern wurde mir klar, dass ich etwas Wichtiges vermied. Dazu muss man sagen, dass ich jahrelang mit Leuten konfrontiert war, die sagten, dass die Ukraine gar nicht existiere, dass sie kein Thema sei. Was ist dann das Ukrainische, fragte ich, das meine Eltern sprechen? Das Sujet wurde mir immer wichtiger. Heute lese ich deswegen lieber Geschichtsbücher als Romane.

STANDARD: Es geht im Witwenhaus vor allem darum, wie man der Geschichte entkommen kann bzw. sich ihr stellen muss, ob man andere wegen des Gangs der Geschichte verraten darf - "Bloß nicht sentimental werden", wird Anthony Eden mehrmals zitiert. In dieses Dickicht gerät der vergleichsweise naive junge Ich-Erzähler, der Geschichte-Student aus den USA. Ist das autobiografisch?

Melnyczuk: Ja, dieser Teil schon. Wobei ich dazusagen muss, dass die meisten anderen aus dem Westen, auch aus England, kaum eine Ahnung über die komplexen Verhältnisse in Osteuropa haben. Die Hauptfigur verkörpert die grundsätzliche Frage nach der Identität: Wohin wir uns als nächstes wenden, bestimmt, was aus uns wird, fast in jedem Augenblick. Der Buddhismus, dem ich nahe stehe, unterstreicht das, wenn er sagt, dass es ein Dasein nur in Beziehung zu anderen Dingen gibt, nicht von sich aus.

STANDARD: Wie sind Sie auf das Luxusbordell als ein Motiv Ihres Romans gekommen?

Melnyczuk: Ich denke, das hat auf seine Weise auch mit dem Motiv der Identität und des Konsumierens zu tun. Es geht um eine besonders destruktive Form von Identität. Und es stimmt, dass die Entscheidung, in Bordellen zu arbeiten, den Frauen nicht immer aufgezwungen wurde, wie es auch im Buch geschildert wird. Doch zugleich ist es ein zentraler Bereich des Menschenhandels, gerade in der Ukraine. Schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es in jener Region Formen von Menschenhandel. Im Buch ist es die Figur der Großmutter Vera, die sehr früh unternehmerisch tätig wurde und dachte, die könnte damit anderen Mädchen helfen. Das waren vielleicht instinktive Formen des Kapitalismus. Das größere ökonomische Thema dahinter ist die Notwendigkeit, sich billig für egal welchen Zweck verkaufen zu müssen. Das ist das Schicksal der Ostarbeiter (deutsch im Original), die es überall auf der Welt gibt.

STANDARD: Wie kam es zu Wien als einem Ort der Handlung?

Melnyczuk: Ich besuchte 1976 einen Onkel hier. Es schien mir eine Stadt der Pensionisten, und die Jungen, mit denen ich sprach, beschwerten sich über die Stimmung. Als ich vor einigen Jahren zu einer Buchvorstellung wiederkam, war das radikal anders. Typisch dafür ist die Figur der Silvia, eine grüne Aktivistin und außerhalb halbe Afrikanerin - was aber ein amerikanischer Lektor gestrichen haben wollte.

STANDARD: Und warum überlegt sich Ihre Hauptperson, mit dem STANDARD zu reden?

Melnyczuk: Weil ich dachte, das ist die Wiener Zeitung, und jemand mit brisantem Material würde sich an ihn wenden.

STANDARD: Ein Material, nämlich über US-Soldaten im Irak, in dem Geschichte als Kette von Gewalt und Desertion fortgesetzt wird.

Melnyczuk: Ja. Die Idee dazu kam mir, als ich vor einigen Jahren in Stuttgart war und von Soldaten hörte, die im Irak-Krieg gewesen waren und nicht mehr zurück wollten; angeblich sollen es an die 8.000 gewesen sein. Andere Storys bestätigten mir den Sachverhalt, und ich beschloss, ihn in die Konstruktion meines Romans einzubauen: als Beleg dafür, dass die Traumata des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust nicht wirklich verarbeitet wurden, wie sehr auch über sie geredet wird.

STANDARD: Das "Amerikanische" kommt in den Augen der meisten handelnden Personen Ihres Buches schlecht weg. Sehen Sie das so ähnlich?

Melnyczuk: Es ist sicherlich schwer, nicht vom amerikanischen Traum der Konsumkultur eingefangen zu werden. Unser bald vergangener Präsident hat ja seine Bürger immer wieder, auch nach 9/11, aufgefordert to go shopping. Das kommt als arrogant und naiv zugleich rüber, so wie Vieles, das der Rest der Welt von den USA wahrnimmt.

STANDARD: Worüber wird Ihr nächstes Buch sein?

Melnyczuk: Es sind zwei. Eines ist eine Reihe von Porträts: von einem tibetischen buddhistischen Lehrer, der für mich eine große Bedeutung hat, von meinem Paten, der ein erfolgreicher Maler und ein tragisches Ende gefunden hat, und von einem Dichter, den ich kannte und der Selbstmord begangen hat. Das andere ist ein Roman über einen illegalen Einwanderer in den USA.

STANDARD:  Wer zählt zu Ihren literarischen Vorbildern?

Melnyczuk: Das sind viele. Russell Banks würde ich nennen, Don deLillo. David Foster Wallace war brillant, sein Tod ist ein großer Verlust für die amerikanische Literatur. Und Saul Bellow war einer meiner Helden, ich habe ihn sogar kennen gelernt und eine Formulierung von ihm für mein Buch geklaut - aber nur, weil er gesagt hat, dass er sie selber geklaut hat.  (Michael Freund/DER STANDARD, Printausgabe, 18.11.2008)