In der Blauen Lagune wird jetzt vor allem die Stimmung der Bewohner Reykjavíks zum Brodeln gebracht: mit Pool-Partys und elektronischer Musik.

Foto: Airwaves/Mike Benson

Airwaves Musikfestival: www.icelandairwaves.com.

Foto: Airwaves/Mike Benson

Island ist von der Weltwirtschaftskrise stärker betroffen als irgendein anderes europäisches Land. Das scheint manchen Isländern aber bis jetzt noch kaum aufs Gemüt zu schlagen. "Jetzt gilt: Rocken bis zum Untergang", scherzt einer der Veranstalter des fünftägigen Airwaves Musikfestivals. Für eine Hauptstadt mit 116.000 Einwohnern wirken die mehr als hundert Veranstaltungen im Oktober völlig überdimensioniert. Genauso wie das viel zu groß geratene Nachtleben. In den rund fünfzig Bars und Klubs der Rauchbucht, so der deutsche Name für Reykjavík, wird die Krise weggefeiert - zumindest von Donnerstagabend bis Sonntag.

Dem Typus "introvertierter Wikinger", wie ihn das schlechte Reisehandbuch unterstellt, wird man hier nicht begegnen. Den soll es ohnehin nur angeblich und viel früher einmal gegeben haben, als tatsächlich noch Wikinger die Insel besiedelten. Dann aber hätten diese Wikinger auf Plünderreisen Männer und Frauen aus der ganzen Welt geraubt und auf ihre geliebte Vulkaninsel verschleppt, um sich künftig ein wenig mehr "kontinentale Atmosphäre" zu gönnen.

Heute bedienen sich die Isländer selbstverständlich subtilerer Methoden, um Menschen auf ihre Insel zu bekommen: Die exotische Kombination aus einer düsteren, nordischen Natur mit brodelnden Vulkanquellen und einem ebensolchen Nachtleben treibt rastlose Trendjäger in Scharen auf die Insel. Vielleicht sind aber auch Szenen, die den Filmen des finnischen Regisseurs Aki Kaurismäki entlehnt sein könnten, dafür verantwortlich: "Einmal saß ich da am Tisch, es war später Abend, um Weihnachten herum, nur vier Isländerinnen, die sich viel zu erzählen hatten, sind gekommen und ein Mann, der sich etwas abseits über ein Glas Whisky beugte. Das war George Clooney. Und er wurde in Ruhe gelassen", erzählt Yvan Rodic, während er an seinem ersten Bier vor einer langen Nacht in der nördlichsten Hauptstadt schlürft.

Die Uniform ist nur Fassade

Der Londoner Modefotograf bereist ständig Weltmetropolen, aber seine regelmäßige Wiederkehr ins architektonisch von recht uniformen Neubausiedlungen geprägte Reykjavík lässt er sich nicht nehmen. "Wie sich die Leute hier zum Ausgehen stylen, ist spannender", glaubt er, "als etwa in Berlin. Hier bekommt man Inspiration für die eigene Arbeit, denn Island ist viel origineller, vor allem in der Mode."

Dann bricht auch er zu der in Island besonders präsenten Modeerscheinung der "Party vor der Party" auf. Vor allem die Studenten beginnen den Abend, so wie die meisten Isländer, an einem Wochenende schon um halb sieben daheim mit Freunden. Mitgebrachter Alkohol ist hier freilich nicht nur Teil einer gemütlichen Tradition, sondern in erster Linie budgetschonender. Denn vom Wertverlust der isländischen Krone, durch den ein Bier seit kurzem umgerechnet nur mehr 4 statt früher 8 Euro kostet, profitieren freilich nur die Reisenden. Auch einfache Hotels sind mit Zimmerpreisen ab 40 Euro preiswerter denn je. Zentrale Herbergen gibt es in Reykjavik nun erstmals für 10 bis 15 Euro die Nacht.

Wer nirgendwo eingeladen ist, wird mit ziemlicher Sicherheit im "Belly's" die billigsten Drinks der Stadt in zweifelhafter und dennoch lustiger Wandfernseher-Atmosphäre genießen. Etwas stilvoller ist da schon das "Boston" an der Hauptstraße gleich neben dem "Spuutnik", einem der vielen gut sortierten Secondhand-Läden. Das "Boston" ist die Bar von Freunden der Musikerin Björk und wohl auch deshalb ihr Lieblingslokal. Feudale Sofas und Versatzstücke, die immerhin schon an die 1990er-Jahre erinnern, erzeugen unprätentiöse Gemütlichkeit, die Küche ist dort ausgezeichnet. Vor allem die deftige Lammsuppe für umgerechnet 10 Euro und frischer Fisch sind populär bei den Gästen. Selbst die Sushi-Bude ein paar Häuser weiter hat den normierten Speiseplan um originelle isländische Fischrezepte bereichert.

Kreative Kalkulierer

Um neun Uhr abends - und dieser Zeitpunkt scheint in Reykjavik ganz genau kalkuliert zu werden - will oder kann man sich dann das Ausgehen leisten. In die "Kaffibarinn" etwa. Dieser in warmen (und irgendwie auch wärmenden) Rottönen eingerichtete, zweistöckige Klub ist bei Musikern, Modeleuten und Studenten gerade sehr gefragt. Die Gäste sind tatsächlich originell gekleidet, im Lokal erinnert nur mehr wenig an eine Kleinstadt. "Vielleicht liegt es ja daran, dass es in jeder isländischen Familie zwei Künstler oder wenigstens Kreative gibt", glaubt der Barmann. Denn Reykjavík selbst findet er nun wirklich nicht so besonders.

Die weitere Route scheint vorprogrammiert: Etwas später trifft man die selbe Klientel dann im "Tunglid" (zu deutsch: im Mond), einem etwas größeren, in der Gunst der Nachtschwärmer gerade wachsenden Klub, der am Wochenende offiziell erst um 5 Uhr 30 Sperrstunde hat. Aber selbst die nehmen Isländer nicht so genau. Oder umgehen sie zumindest durch einen offenen Hintereingang, der auch um diese Zeit noch ins Café Cultura führt, wo dann unter Umgehung des mittlerweile geltenden Rauchverbots weitergetanzt wird.

Selbst eines der größten touristischen Sammelbecken Islands, die Blaue Lagune, wird zur Nebensaison schon mal zum Klub. Dann legt ein DJ am Wasserrand auf, und die Leute tanzen unter freiem, winterlichem Himmel - wiewohl von vulkangewärmtem, rauchendem Wasser umspült. Dass sie so ausdauernd feiern können, erklären die Isländer gern, sei eben letztlich der erholsamen Wirkung dieser heißen Bäder im Freien zuzuschreiben.

Doch auch die Hauptstadt selbst verfügt über sieben Thermal-Freiluftbäder, das Vesterbaejarlaug aus den 1930er-Jahren etwa ist gemütlich und klein. Mit mehr Energie - und nur mit einem Auto - lässt sich einer der unter Touristen weitgehend unbekannten Badeplätze in den Bergen erreichen: In zwei Stunden ist der Seljavallalaug erreicht, ein stillgelegter und mit Moos bewachsener Pool mitten in den grauen Bergketten Islands. Er wird direkt mit heißem Wasser aus dem Boden versorgt, der Blick schweift, und ein vom gnadenlosen Nachtleben der Hauptstadt aufgeweichtes Hirn bekommt hier die Chance, schnell zu gesunden. (André Anwar/DER STANDARD, Printausgabe, 15./16.11.2008)