Kathrin Yen (hier bei einer gestellten Untersuchung) bietet Gewaltopfern niederschwellige Hilfe an

Foto: Med Uni Graz/Bergmann

Graz - "Mich ärgert es immer wieder, wenn ich in den Medien von Fällen lese, wo die Gerichtsmediziner erst nach Monaten die Fotos von Verletzungen der Opfer zu Gesicht bekommen haben", erklärt die Leiterin des Grazer Institutes für Gerichtsmedizin, Kathrin Yen im Gespräch mit dem Standard. Und Yen ist überzeugt davon, dass Fälle, wie der tragische Tod des 17 Monate alten Luca, in Graz so nicht passiert wären: "Bei uns wäre das sicher schon nach der ersten Einlieferung des Kindes angezeigt worden, da gibt es kein links und kein rechts".

In Österreich gibt es in allen größeren Spitälern die Einrichtung sogenannter Kinderschutzgruppen, die bei Fällen, in denen bei einem eingelieferten Kind Zeichen von Gewalteinwirkung bemerkt wurden, über die weitere Vorgangsweise beraten. In Graz sitzt in diesen Gruppen neben Kinderärzten, Psychologen und Sozialarbeitern "immer auch ein Gerichtsmediziner", erklärt Yen. Und das mache den Unterschied aus, denn nur Gerichtsmediziner "lernen in ihrer Ausbildung, wie man aus Verletzungen Rückschlüsse ziehen kann". Doch dazu müsse man die Verletzungen möglichst schnell sehen.

Zeichen, dass man in Lebensgefahr war

Ein Beispiel sei ein Beweis dafür, dass jemand stranguliert worden ist, so Yen: "Das einzige untrügliche Zeichen dafür, dass man in Lebensgefahr war, sind Blutstauungen in der Bindehaut der Augen. Doch das sind sehr diskrete Blutungen, die manche gar nicht sehen, und nach einem Tag sind sie überhaupt nicht mehr sichtbar." Bei Luca hätte man "schon ganz am Anfang und jedes Mal einen Gerichtsmediziner hinzuziehen müssen".

Datensicherung ohne Anzeigepflicht

Eine Einrichtung, die Gewaltopfern helfen soll, bevor es zu spät ist, wurde vor einigen Wochen eröffnet. Die erste klinisch-forensische Ambulanz für Gewaltopfer Österreichs ist nun an Yens Gerichtsmedizin beheimatet. Eine Idee, welche die 40-jährige Medizinerin, die erst vor zwei Jahren hier ihren Dienst antrat, schon in der Schweiz, wo sie am Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern tätig war, kennenlernte. Seit 1. Oktober wird nun dank einer Kooperation mit dem im Sommer gegründeten Ludwig-Boltzmann-Institut für Klinisch-Forensische Bildgebung und der Med-Uni Graz die Ambulanz betrieben, die sich von Krankenhäusern nicht nur durch das forensisch ausgebildete Personal unterscheidet. Ganz wichtig für viele Opfer von Gewalt ist es nämlich, dass man seine Verletzungen ohne Anzeigepflicht untersuchen und protokollieren lassen kann.

Ambulanz stark frequentiert

Im ersten Monat wurde die Ambulanz bereits sehr stark frequentiert, erzählt Yen. Viele Klienten wurden von Ärzten, aber auch Gewaltschutzeinrichtungen weitervermittelt. "Dass man es sich noch überlegen kann, ob man den Täter anzeigen will, ist vor allem für Opfer häuslicher Gewalt extrem wichtig", weiß die Ärztin. Andererseits habe man so die Möglichkeit, Verletzungen im frischen Zustand zu dokumentieren und für etwaige Gerichtsverhandlungen aufzubewahren, so sich das Opfer später für eine Anzeige entscheidet. Die Daten werden jedenfalls mindestens sechs Monate gelagert.

Untersuchungen in der Ambulanz sind kostenlos

"Bei schweren Verletzungen raten wir natürlich zu einer Anzeige, aber niemals tun wir das über den Kopf der Klienten hinweg", so Yen, die selbst allerdings gerade in Fällen, in denen Kinder Opfer sind, für eine strengere Anzeigepflicht eintritt, als sie der Gesetzgeber derzeit vorsieht. Untersuchungen in der Ambulanz sind kostenlos (Terminvereinbarungen unter 0664/843 82 41). Das Projekt ist für sieben Jahre finanziert, da die Daten für die Forschung verwertet werden. Yen hofft jedoch, dass die Ambulanz „als dauerhafte Einrichtung bleibt". (Colette M. Schmidt/DER STANDARD Printausgabe 13.11.2008)