Am 12. November 1918 um 15.10 Uhr begann die 3. Sitzung der "Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich", in der die Gründung der Republik beschlossen wurde. Es war das Ende einer tausendjährigen Tradition der monarchischen Staatsform in Österreich, deren Herrschaftsgebiet sich im Lauf der Jahrhunderte auf weite Teile Europas erstreckt hatte. Niedergang und Ende des Habsburgischen Staates hatten viele Ursachen. Die wichtigsten waren wohl die rasanten technologischen und gesellschaftlichen Umbrüche - der "Eintritt der Massen" in die Politik - und speziell das Nationalitätenproblem, gepaart mit gravierenden sozialen Problemen. Am 16. Oktober 1918 forderte der Kaiser in einem Manifest zu einer bundesstaatlichen Neuordnung der Monarchie auf. Diese sollte "... als Bund freier Völker aus den Stürmen des Krieges hervorgehen ...". Der Versuch, die Monarchie zu retten, kam zu spät.
Auf der Basis des Manifests konnten die Abgeordneten des 1911 gewählten Reichsrates ihrerseits aktiv werden. Die "deutschösterreichischen" Abgeordneten versammelten sich am 21. Oktober im niederösterreichischen Landtagssitzungssaal als "Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich" und wählten einen "Vollzugsausschuss" zur Vorbereitung einer Verfassung: Damit war die Gründung des Staates "Deutschösterreich" beschlossen. Diese Konstitution, zu der die Nationalversammlung nicht befugt gewesen sei, trug für Hans Kelsen, einen der wesentlichen Mitgestalter der Verfassung, alle Züge eines radikalen Umbruchs: "Revolution aber ist, vom juristischen Standpunkt aus gesehen, nichts anderes als der Bruch der Rechtskontinuität. Und ein solcher Bruch ist auch dann noch Revolution, wenn er sich ... ohne äußeren Kampf, ohne Blutvergießen vollzieht ..."
Die Frage der Staatsform wollte man zunächst einer noch zu wählenden Nationalversammlung überlassen, rang sich aber nach der Überwindung christlichsozialer Widerstände zur republikanischen Staatsform durch. Der Kaiser erklärte am 11. November 1918, er erkenne im Voraus "die Entscheidung an, die Deutschösterreich über seine künftige Staatsform trifft. Das Volk hat durch seine Vertreter die Regierung übernommen. Ich verzichte auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften ..." Mit dieser Formulierung vermied er eine formelle Abdankung. Am 12. November 1918 wurde das "Gesetz über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt" von der Provisorischen Nationalversammlung beschlossen, das als das Gründungsdokument der Republik gelten kann. Artikel 1 lautete: "Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt." Artikel 9 führte das Verhältniswahlrecht und den Grundsatz des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmrechts aller Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts ein.
Aus den Fesseln befreien
Für die Sozialdemokratische Partei war dieser Erfolg eines langen Kampfes für Demokratie und Republik vom Tod ihres Vorsitzenden Dr. Victor Adler überschattet, der am 11. November 1918, einen Tag vor der Ausrufung der Republik, verstorben war. Wie kein anderer hatte Adler die österreichische Arbeiterbewegung geprägt. Als sozial engagierter Arzt fand der Sohn eines reichen Bürgers in den Achtzigerjahren zu der von polizeilichen Verfolgungen gepeinigten und heillos zerstrittenen Bewegung. Am Hainfelder Parteitag 1888/89 gelang es Adler, die wichtigsten Strömungen in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAP) zu vereinen und sie zu einer handlungsfähigen Massenpartei zu machen.
Die Ziele der Sozialdemokratie waren u. a. "das gesamte Volk ohne Unterschied der Nation, der Rasse und des Geschlechtes ... aus den Fesseln der ökonomischen Abhängigkeit, ... der politischen Rechtlosigkeit und ... der geistigen Verkümmerung" zu befreien. Mit der demokratischen Republik wurde die politische Basis dafür geschaffen. Die wirtschaftliche war nach dem verlorenen Krieg alles andere als ideal: katastrophale Lebensmittelversorgung, veraltete Maschinen, erschöpfte Vorräte, zerstörte Verkehrswege.
Im Oktober und November 1918 waren die Sozialdemokraten die einzige Kraft, die über politische Konzepte verfügte und sie gegenüber den Arbeitermassen vertreten konnte. Das Elend des Krieges, die Hungersnot, auch das Beispiel Sowjetrusslands ließen einen gewaltsamen Umsturz für viele Arbeiter und heimkehrende Soldaten attraktiv erscheinen. Die Sozialdemokratie setzte dem ihre tragende und bewahrende Rolle entgegen. Dass sie es erfolgreich tun konnte, verdankte sie der Einsicht ihrer wichtigsten Funktionären, die als oberstes Ziel die Geschlossenheit von Partei und Gewerkschaft erkannt hatten. Die Errichtung von Räterepubliken in Ungarn und Bayern zwang die anderen Parteien in Österreich zu weitgehenden Konzessionen. Die Errichtung von Einigungsämtern, die Invalidenfürsorge und die staatliche Arbeitslosenunterstützung, Maßnahmen zur Bekämpfung der Wohnungsnot und der Achtstundentag in fabriksmäßig betriebenen Unternehmen, das Gesetz über die Errichtung von Betriebsräten waren die ersten Erfolge der Arbeiterschaft.
Im Juli wurde zum ersten Mal bezahlter Urlaub für Arbeiter eingeführt. Im Dezember 1919 wurde das Gesetz über Einigungsämter und Kollektivverträge und die Ausdehnung des Achtstundentages auf kleine gewerbliche Betriebe durchgesetzt. Im Februar 1920 wurden die Kammern für Arbeiter und Angestellte errichtet. Das alles hat Victor Adler nicht mehr erlebt.
Die politisch-ideologischen Lager sind, so Adam Wandruszka in seiner berühmten Arbeit über die politische Struktur Österreichs (1954), bis heute prägende Faktoren der Geschichte: das christlichsozial-konservative, das (deutsch-) nationale und das sozialdemokratische Lager. Diese Lager, die sich im 19. Jahrhundert im Zuge der industriellen und der bürgerlichen Revolution herausgebildet, gefestigt und als Parteien konstituiert hatten, waren die eigentlichen Gründer der Republik.
Das Verhältnis der Gründungsväter zu ihrem Kind war durchaus ambivalent: Die Sozialdemokraten traten für die demokratische Republik ein, christlichsoziale und deutschnationale Abgeordnete wollten sich nicht gleich von der Monarchie trennen. Bald stellte sich heraus, dass jeder noch so lose Verband der Nationen des Habsburgerreiches illusorisch war. Für die Sozialdemokraten war mit der von Otto Bauer so bezeichneten "österreichischen Revolution" ein wichtiges Ziel erreicht: die politische Demokratie. In den zwei Jahrzehnten seit ihrer Parteigründung hatten sie um einen demokratischen Parlamentarismus gekämpft - voller Hoffnung, die politische zu einer sozialen Demokratie entwickeln zu können.
Die Parteien hatten zwar den Staat als Republik mit einer parlamentarisch-demokratischen Verfassung konstituiert, über seine zukünftige Richtung aber waren sie uneins. Zunächst sahen alle einen Anschluss an die deutsche Republik, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, als sinnvollste Lösung an, was sie in der Oktoberverfassung 1918 zum Ausdruck brachten: "Deutschösterreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik." Die Perspektive ging mit dem Staatsvertrag von St. Germain im September 1919 verloren.
Trotz des Bruches der Koalition zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten im Sommer 1920 gelang im Oktober noch die Beschlussfassung einer streng am Ideal des Parlamentarismus orientierten Bundesverfassung. In den folgenden Jahren wurde die politische und kulturelle Partizipation stark von den politischen Parteien getragen. Nahezu alle Bereiche des Lebens wurden von ihnen oder ihren Vorfeldorganisationen erfasst. Die antidemokratischen Bestrebungen, wie sie sich vor allem in der Heimwehrbewegung formierten, richteten sich folgerichtig nicht nur gegen die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, sondern auch gegen den parteienstaatlichen Parlamentarismus. Der Austrofaschismus machte dem demokratischen Aufbruch ein Ende, mit der Konsequenz des Aufgehens des österreichischen Klerikalfaschismus im Nationalsozialismus.
Auch die Zweite Republik wurde von den politischen Parteien getragen. Der parteienstaatliche Parlamentarismus setzte sich nach 1945 unbestrittener als in der Ersten Republik durch. Die Stärkeverhältnisse der "Lagerparteien" ähnelten jenen 1920 - mit der Einschränkung, dass zunächst nur die sogenannten antifaschistischen Parteien ÖVP, SPÖ und KPÖ zugelassen waren. Ein erster organisatorischer Ausdruck des "dritten Lagers" fand 1949 als Wahlverband der Unabhängigen und später als Verband der Unabhängigen die Zustimmung der Alliierten. Mittlerweile teilen sich FPÖ und BZÖ das Erbe des "dritten Lagers" - oder das, was sie dafür halten.
Heute ist die entscheidende Frage, wie weit die Parteien noch in der Lage sind, der Bevölkerung glaubhaft Partizipationsmöglichkeiten anzubieten. Die Idealvorstellungen von Theoretikern der Zwischenkriegszeit, wie Kelsen in Österreich oder Gerhard Leibholz in Deutschland, scheinen wirklichkeitsfremd. Für Kelsen war die Demokratie nur als Parteienstaat denkbar, der die erforderliche Stabilität der Gesellschaft gewährleisten kann. Für Leibholz war der Parteienstaat "eine rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie oder, wenn man will - ein Surrogat der direkten Demokratie im modernen Flächenstaat".
Dem Wunsch nach weiteren Demokratisierungsschritten sollte zuletzt durch die Vereinbarungen im "Österreichkonvent" entsprochen werden. Leider scheiterte die Umsetzung einer Stärkung der demokratischen Rechte der Bevölkerung und der Kontrollrechte des Parlaments an ÖVP und FPÖ. Für verpflichtende Volksabstimmungen über Volksbegehren, die von 15 Prozent der Stimmberechtigten unterzeichnet werden, fand sich kein Konsens. Dennoch bin ich überzeugt, dass der Legitimationsverlust der Parteien künftig eine stärkere Ausschöpfung der in der Bundesverfassung seit 1920 vorgesehenen Möglichkeiten direkter Demokratie erzwingen wird.
Politische Bildung verstärken
Gerade in der aktuellen Debatte um die intensivere Einbindung aller Mitbürger in Entscheidungen von historischer Tragweite scheint mir dieser Hinweis unumgänglich: Wir erfinden nichts neu, sondern bedienen uns der Mittel, welche die Gründerväter der Republik den nachfolgenden Generationen zur Verfügung gestellt haben. Noch wichtiger scheint mir aber die Förderung einer rationalen Information der Bevölkerung und die Intensivierung eines rationalen Diskurses zu sein. Die politische Bildung in den Schulen und in den öffentlich-rechtlichen Medien muss verstärkt werden. Die Menschen und zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich für die Gesellschaft engagieren, verdienen nicht nur mehr Anerkennung, sondern auch mehr Förderung. (Alfred Gusenbauer/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8./9. 11. 2008)