Wien - Umgarnen, betören, anlocken, wegstupsen, sich flatternd zurückziehen, um sich erneut hüpfend vorzuwagen. Ein stetes Vor und Zurück, ein Spiel von zwei schwarzen, zum Rund geformten Linien in der Luft. Zwei anmutig wabernde, schattenwerfende Kreise: eine Zeichnung, die wohl endlos im Raum tanzt.

Foto: Kunsthalle / Kempinas

Ein gefährlicher Tanz. Zilvinas Kempinas, der die zwei Magnetbänder mittels zweier Ventilatoren zum Schweben bringt, reißt uns aus den, trotz surrender Windgeräte, poetischen Träumen: Nach drei Tagen tötet das eine Band das andere, wird also aus dem Double O ein singuläres, hörbares "Oh!" Warum? Eine gottesanbeterische Frage der Physik und des Materialverschleißes. Zieht jedoch nur ein Magnetband seine unvorhersagbaren Schleifen durch den Raum, unbeirrbar durch äußere Eingriffe wie etwa Airborne, beweist das unbespielte VHS-Material seine schier ewige Lebensdauer. Für Kempinas ist das Speichermedium aufgeladen mit Gedanken von Zeit und Erinnerung, aber - im Hinblick auf seine bald überholte Technologie - auch mit Nostalgie behaucht.

Foto: Kunsthalle / Kempinas

Die superleichten, glänzenden Bänder analog zu den Linien einer Zeichnung zu setzen liegt nahe, vergleicht doch Kempinas selbst ihre Bahnen mit dem Gestus des Schreibens, dem Ziehen von Buchstaben. Kempinas imponiert das enorme Potenzial des Minimalen: "Ich mag das Konzept der Geraden in der Mathematik - sie hat keine Breite, ist aber unendlich lang ... stellen Sie sich das einmal vor!"

Foto: Kunsthalle / Kempinas

Nur allzu gerne stellt man sich das vor, obwohl allein das unmittelbare Erleben seiner Liniengespinste restlos zu verzaubern vermag. Den Geraden huldigt Kempinas auch in der Kunsthalle und hat für die entsprechende Installation Parallels während seiner zweiwöchigen Handarbeit wohl den Großteil der insgesamt rund 10.000 Nägel und 23 Kilometer Band verbraucht. Den Raum durchziehen horizontal, etwa eine Armlänge über Kopf, unzählige parallele Bänder: Kempinas hat ein Zusammenwirken von Hell und Dunkel komponiert, das an das Medium Film denken lässt; das mehr Raumgefühl als sich materialisierende Skulptur ist. Vielmehr scheint sich das glänzende, reflektierende Material aufzulösen und sich der Natur der Schatten, die es in rautenförmigen Flecken selbst wirft, anzunähern: ein lichtes Schweben.

Foto: Kunsthalle / Kempinas

Mit dieser Poesie der fliegenden Bänder hat der in New York lebende Litaue Kempinas schon einige Orte bedacht: das Pariser Palais de Tokyo oder zuletzt etwa Le Grand Café in St. Nazaire. Im offenen Dachstuhl des Atelier Calder in Saché hat der Calder-Preisträger 2007 mit Tube eine besonders eindrucksvolle, mit der Schönheit des lichtdurchfluteten Raums spielende Arbeit realisiert: Auf einem Steg durchschreitet man eine Röhre seiner magnetischen wie magischen Bänder. Und man darf daher gespannt sein, welchen Eingriff Kempinas kommendes Jahr auf der Biennale in Venedig am litauischen Pavillon vornehmen wird.

Foto: Kunsthalle / Kempinas

Obwohl Kempinas seine Materialien, darunter Mikrofilm oder 35-mm-Filmrollen, bis vor wenigen Jahren eher skulptural verwendete, er Aluminiumstäbe in die Wiese steckte oder - an frühe Arbeiten Tinguelys erinnernd - funktionstüchtige Minutenzeiger auf der Leinwand drapierte, ist das Prinzip des Aufspannens ein ganz altes: Bereits als Siebenjähriger knüpfte er Wollfäden durch die ganze Wohnung. An dieses Ausloten und Erobern des Raumes, an dessen Geräumigwerden, an die Metamorphose von Raum wie Faden erinnert er sich noch heute gerne. Aber erst viele Jahre später wurden aus dem kindlichen Spiel jene Sinneserlebnisse, die Aspekte aus Op-Art, Minimal und kinetischer Kunst vereinen. Den Vergleich mit Fred Sandback, der einst mittels Fäden Volumina im Raum aufspannte, lässt Kempinas nur an der Oberfläche zu: Dessen ästhetische Annäherung wirke auf ihn "klaustrophobisch". (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD/Printausgabe, 03.11.2008)

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Kunsthalle Wien

Foto: Kunsthalle / Kempinas