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Barack Obama im Spiegelbild der amerikanischen Wähler: "Die Leute sagten sich nach den Fernsehdebatten: Oh ja, dieser Bursche könnte von dem Job wirklich etwas verstehen."

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Michael Kazin forscht über die USA und die Geschichte der sozialen Bewegungen.

STANDARD: Professor Kazin, Barack Obama führt in den Umfragen. Gewinnt er die Wahl? Was kann ihn noch stoppen?

Kazin: Der Bradley-Effekt. Wenn die Leute den Demoskopen nicht die Wahrheit sagen. Wenn fünf Prozent angeben, dass sie für Obama stimmen, dann aber McCain wählen. Und falls McCains Anhänger in größerer Zahl als erwartet an die Urnen treten. McCain bräuchte eine Million Überraschungen, um zu gewinnen. Aber wer weiß.

STANDARD: Zwei Wahlen waren auch Paradigmenwechsel, 1932 der Sieg Franklin D. Roosevelts und der nachfolgende Linksruck, 1980 der Sieg Ronald Reagans und die Stärkung der Rechten. Wird 2008 eine ähnliche Zäsur?

Kazin: Vielleicht. Mal sehen, was Obama in seinen ersten vier Amtsjahren macht, falls er gewinnt. Bei Roosevelt wusste man 1932 auch nicht, dass es ein solcher Einschnitt sein würde. Sein Programm war anfangs recht vage. Der New Deal kristallisierte sich erst nach und nach heraus. Und vergessen Sie nicht, die Konservativen verfügen nach wie vor über eine beeindruckende Infrastruktur, in den Denkfabriken, im Business, in den Kirchen. Sie haben eine Basis für ein Comeback, falls Obama wankt.

STANDARD: Sehen Sie eine Trendwende in der nationalen Stimmung? Mehr Staat, weniger Individualismus?

Kazin: Auf der einen Seite wollen die Amerikaner einen aktiveren Staat, auf der anderen keine höheren Steuern. Sie trauen dem Fiskus nicht zu, mit ihrem Geld das Richtige zu tun. Das ist aber auch Barack Obamas Chance. Er kann zeigen, dass die Regierung im Interesse der Menschen handelt. Vielleicht wird die Gesundheitsreform für Obama das, was die Steuersenkungen für Reagan waren: sein Markenzeichen.

STANDARD: Was würde ein Präsident Obama für die Beziehungen zu Europa bedeuten?

Kazin: Die Kultur der Debatte wird sich verbessern. Die Europäer empfinden Zuneigung für Obama, und Obama wird sich an dieser Zuneigung wärmen. Allerdings sind die USA immer noch eine gleichsam imperiale Nation mit einem starken Militär und der Verpflichtung, islamische Terroristen rund um den Globus zu besiegen. Obama wird die militärische Präsenz in Afghanistan ausbauen, in einem Krieg, der sich, wenn überhaupt, nur schwer gewinnen lässt. Er wird von der Nato in Afghanistan mehr verlangen. Das kann zu Reibereien führen. Nach der Wahl eines Präsidenten gibt es ja immer diese Art Honeymoon. Aber es gibt eben auch Strukturen, die sich nur schwer ändern lassen.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Kazin: Die Vereinigten Staaten sind noch immer die Supermacht. Es wird sehr schwer für Obama, eine bescheidenere Rolle zu spielen. Allerdings haben einige seiner Berater begriffen, dass man die Gefahr des Terrorismus am ehesten verringert, wenn man nicht ständig vom ultimativen Kampf zwischen Gut und Böse spricht. Obama sieht Amerika nicht in der Rolle des Messias, er versteht die Feinheiten anderer Kulturen und Gesellschaften. Er klebt ihnen keine Etiketten auf: gut oder böse, mit uns oder gegen uns.

STANDARD: Wir sind die Guten, die Gegner die Bösen - ist dieses Denkmuster nicht tief verwurzelt in den USA?

Kazin: Erstens hat der Krieg im Irak, die Art, wie er verkauft wurde, viele ernüchtert. Zweitens neigen die zahlreichen Immigranten weniger dazu, Amerikas Rolle in der Welt a priori als eine wunderbare zu sehen. Ein Beispiel: Obama erklärte, dass er bereit ist, sich ohne Vorbedingungen mit unseren Feinden an einen Tisch setzen. Sowohl Hillary Clinton als auch John McCain dachten, sie könnten Kapital daraus zu schlagen. Es ist ihnen nicht gelungen. Den meisten Amerikanern gefiel, was Obama sagte. Es hörte sich rational an.

STANDARD: Falls er siegt: Wird die Finanzkrise den Ausschlag gegeben haben?

Kazin: Der Kandidat der Demokraten hatte von vornherein gute Karten. Bush ist so unpopulär, dass viele glauben, nun soll an Stelle der Republikaner mal die andere Partei ihr Glück versuchen. Wichtig waren auch die drei Fernsehdebatten zwischen McCain und Obama. Alles, was die Amerikaner vorher über Obama wussten, war, dass er tolle Reden halten kann. In den Debatten wirkte er beständiger, intelligenter, durchdachter als McCain. Die Leute sagten sich: Oh ja, dieser Bursche könnte von dem Job wirklich etwas verstehen.

STANDARD: Was, wenn Obama verliert?

Kazin: Dann haben die Demoskopen ziemlich viel Trauerarbeit zu verrichten. (Frank Herrmann/DER STANDARD, Printausgabe, 03.11.2008)