In den politischen Parteien hat der Geist noch nie wehen können, wo er wollte. Sieht man ab von den wenigen Permanenzkritikern in der Politologie, der Philosophie, der Literatur und dem Journalismus, lassen aktive Politiker das Theoretisieren aus. Immerhin haben jetzt Alfred Gusenbauer und Wilhelm Molterer in die Tasten und zur Maus gegriffen. Der Kanzler für das vom STANDARD mitbegründete internationale Kommentarnetz "Project Syndicate" , der Vizekanzler für DER STANDARD. Gusenbauer entwarf die Skizze einer sozialdemokratischen Marktwirtschaft für das 21. Jahrhundert. Molterer aber tat so, als wäre es unter den Schüssel-Regierungen nie und nimmer neoliberal zugegangen.

Warum ist die Politik in normalen Zeiten so bar jeder (sprachlich plausibel formulierten) Theorie? Weil es keine Thinktanks hinter den Parteien mehr gibt. Was einst das Kummer-Institut und das Vogelsang-Institut für die ÖVP waren, das Renner-Institut und das Ford-Institut für die SPÖ. Klar, sie sind vorbei, die unruhigen 60er- und 70er-Jahre. Aber die Parteichefs der 80er-Jahre (und später) haben keine rebellischen jungen Leute mehr in die Parteisekretariate und ihre Kabinette geholt.

Sie sind auch schwer zu finden. In der ÖH vielleicht - unter den Studentinnen des VSSTÖ. Aber wo ist die ehemalige (durchaus auch theoretische) Stärke des CV geblieben? Manchmal flackert sie in der Zeitschrift Academia auf. Wo ist die Unbotmäßigkeit der Katholischen Hochschuljugend (KHJ) geblieben, aus der z. B. Erhard Busek und Franz Fischler stammen? Deshalb fallen ja die Burschenschaften (z. B. Olympia) umso stärker und extremistischer auf.

Die Ministerbüros werden von Jünglingen mit genagelten Schuhen oder stilisiertem Laufwerkzeug beherrscht. Sie orientieren sich an Rankings, Umfragen und Klatsch. Allenfalls haben sie, so sie aus dem Bauernbund kommen, noch eine Ahnung vom Boku-getriebenen Umweltdenken. Welche Arten von Liberalismus es gibt, wie man Neo-Cons von Wertkonservativen alten Schlags unterscheidet, wissen die wenigsten. Genderfragen? Wertedebatten? Tote Hose.

In der SPÖ hat die theoretische Abrüstung schon lange vor Werner Faymann begonnen. In der ÖVP war für Schüssel der Intellektuelle Erhard Busek ein Irrweg der Politik. Er suchte Rückhalt im Kloster und im Alten Testament. Er duldete keinen Widerspruch. Daher auch kein geistig riskantes Cluster. Hinausgeschmissenes Geld. So was rechnet sich nicht für einen Machthaber.

Und was ist mit den Grünen? Die alte Garde der Theoretiker (z. B. der Ökonom Kitzmüller) spielt in der Partei keine Rolle mehr. Wo ist die neue Generation? Kennen Sie jüngere Uni-Professoren oder Assistenten, die man grüne Vordenker nennen könnte? Ich bitte um qualifizierte Nominierungen.

Die Geistlosigkeit der Parteien wird sich in der Regierungserklärung (von wem immer) spiegeln. Die Umfragentreue der Pressereferenten wird genauso dominieren wie die Verharmlosung totalitärer Ideologien. Siehe Josef Pröll zur Wahl von Martin Graf. (Gerfried Sperl/DER STANDARD, Printausgabe, 03.11.2008)