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SOS Wall Street: Broker am Tag des Kursgemetzels, Oktober 1929 ...

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... und 79 Jahre später. - Aus Schaden nicht klug geworden?

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Peter Berger: Lektion für die Prediger des "ewigen" Wirtschaftswachstums.

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Vier Tage nach dem "Schwarzen Freitag" der New Yorker Börse am 25. Oktober 1929 fielen die Aktienkurse endgültig ins Bodenlose, der Weg in die Depression war vorgezeichnet. – Ein Rückblick.

Als die Große Depression, von den USA ausgehend, Anfang der 1930er-Jahre Europa erreichte, beschloss der Premierminister der Niederlande, ein Zeichen zu setzen. Er werde, so sagte er den Medien seines Landes, aus Solidarität mit den hungernden und frierenden Arbeitslosen der Kohlenindustrie seine Wohnung nicht mehr heizen. Dem guten Mann wäre es nicht in den Sinn gekommen, dass er am ehesten noch durch mehr Kohlenverbrauch im Haushalt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hätte beitragen können. – Die Politiker der Depressionszeit waren keine Unmenschen, sie waren bloß Kinder ihrer Zeit. Und sie sollten uns aus heutiger Sicht (ich zitiere den großen britischen Wirtschaftshistoriker mit österreichischen Wurzeln, Eric Hobsbawm) ob ihrer offenkundigen Hilflosigkeit leidtun.

Der Republikaner Herbert Hoover, den der Wall-Street-Crash 1929 im ersten Jahr seiner Präsidentschaft überraschte, galt als Wirtschaftsfachmann. Dass er im Weißen Haus residierte, verdankte er der Hoffnung der amerikanischen Bürger, die Prosperität der 1920er-Jahre würde sich unter einer Hoover-Administration fortsetzen. Das hätte noch mehr chromglänzende Autos, noch mehr hübsche Vorstadthäuschen, noch mehr Radios und Kühlschränke bedeutet. Doch es sollte ganz anders kommen. Die Nachfrage nach Wohnraum und dauerhaften Konsumgütern wie Automobilen, Möbeln und Elektrogeräten, die schon 1927 Anzeichen einer Abschwächung zeigte, konnte nur durch eine ans Frivole grenzende Lockerung der Vergabekonditionen für Verbraucherkredite in Gang gehalten werden. Wirtschaftsforscher errechneten damals, dass eine amerikanische Durchschnittsfamilie bei Hoovers Amtsantritt über ein Haushaltsbudget von 2500 Dollar im Jahr hätte verfügen müssen, um komfortabel zu leben. Siebzig Prozent der US-Familien besaßen diese Mittel nicht und stützten ihren Lebensstandard auf bereitwillig angebotene Bankdarlehen.

Billiges Geld stand (neben industrieller Überproduktion, einer krassen Ungleichverteilung des Volkswohlstands und äußerst unsicherem Wirtschaftswachstum) an der Wiege der Großen Depression. Billiges Geld erleichterte auch die Bildung jener Börsenblase, deren Platzen die Depression erst richtig auslöste.

Hier ist jedoch eine Einschränkung angebracht. Die Hypothese, dass Leute immer dann spekulieren, wenn sie genügend Geld haben, um die Spekulation zu finanzieren, steht auf sehr wackeligen Beinen. Auch in Zeiten erleichterter Geldbeschaffung neigt die Börse nur dann zu Exzessen, wenn die Begeisterung der Marktteilnehmer durch eine kollektive Psychose angefacht wird. Der Ökonom John K. Galbraith sprach im Hinblick auf die späten 1920er-Jahre von einer "Massenflucht der Menschen aus der Wirklichkeit" – geduldet, wenn nicht gar gefördert von den Regierungen und einigen Vertretern der Finanzwelt, die massive Verluste gemacht hätten, wäre der Kursauftrieb an der Wallstreet rechtzeitig eingebremst worden. Nicht einmal exzentrische Intellektuelle, so Galbraith, diskutierten 1929 über Thomas von Aquin, die Psychoanalyse oder den Kommunismus. Sie ließen sich stattdessen von mehr oder weniger selbsternannten Börsenexperten das universale Gesprächsthema diktieren, das da lautete: Wie wird man schnell und ohne Anstrengung reich? Der vollständige Sieg der Wall Street auch über die kulturelle Welt hatte eine benennbare Ursache: "die freie Wahl und die freie Entscheidung von Hunderten und Tausenden von Menschen" (Galbraith). Niemand wurde zur Schlachtbank Börse geführt, die Leute bewegten sich freudig von selbst dorthin.

Nicht aus heiterem Himmel

Das Kursgemetzel vom Schwarzen Freitag (24. 10. 1929) kam keineswegs aus heiterem Himmel. Schon im Juni und Dezember 1928, dann im Februar und März 1929 kündigte sich die Katastrophe für klarsichtige Beobachter an. Der Aktienmarkt brach auch nicht an einem einzigen Tag zusammen: vom 25. bis zum 28. Oktober erholten sich die Börsenkurse, um erst am 29. in einen kaum gebremsten Abwärtsstrudel zu geraten. Bis Mitte November verlor der damals prominente New York Times-Industriewerte-Index 248 von ursprünglich 469 Punkten. Mitte 1932 stand er auf 58. Brokerfirmen und Banken waren zu diesem Zeitpunkt schon zu Hunderten in Konkurs gegangen. Das verlorene Vertrauen in die Widerstandskräfte der Wirtschaft hatte die Industrieerzeugung schrumpfen lassen. Der Produktionsrückgang sorgte für einen schwindelerregenden Anstieg der Arbeitslosigkeit. Das bedeutete wiederum Nachfrageausfälle und weniger Industrieproduktion – ein fataler Kreislauf. In der Hektik der Depression lösten sich die Hoffnungen Hoovers auf eine Wiederwahl 1932 rasch auf. Seinem Nachfolger Franklin D. Roosevelt, einem Demokraten, blieb es vorbehalten, die USA auf den Pfad des Staatsinterventionismus zu führen. Anhaltendes Wachstum kehrte freilich nicht durch Roosevelts New Deal zurück, sondern erst durch die Rüstungskonjunktur vor dem US-Eintritt in den Zweiten Weltkrieg.

Europas Wirtschaftspolitiker, die von den Ereignissen jenseits des Atlantiks schon allein deshalb nicht unberührt bleiben konnten, weil US-Investoren ihre Darlehen an europäische Schuldner zur Deckung von Spekulationsverlusten repatriieren mussten, setzten in der Mehrzahl noch sehr lang – allzu lang – auf die liberale Doktrin des Aussitzens der Krise. Das schloss punktuelle Eingriffe zur Stützung besonders gefährdeter Wirtschaftszweige oder Unternehmen nicht aus. In Österreich wurde auf diese Weise fast der gesamte Bankensektor, allen voran die einst so ruhmreiche Credit-Anstalt, verstaatlicht. Die Spareinlagen der Bevölkerung kamen in den Genuss weitreichender öffentlicher Garantien. Weitaus zögerlicher fiel die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aus. Arbeitsgelegenheit könne man nicht schaffen, sagte Österreichs Notenbankgouverneur Viktor Kienböck, sie sei vorhanden oder eben nicht. Ob er die Raumtemperatur in seiner Wohnung reduzierte, ist nicht bekannt.

Umso bekannter sind die nachhaltigen Folgen der europäischen Depression: ein Abwertungswettlauf der nationalen Währungen um kurzfristiger Exportvorteile willen, dramatische Rückgänge des Industrie- und Handelsvolumens und letztlich die Selbstaufgabe der Demokratie im Angesicht faschistischer und kommunistischer Herausforderungen. In der geschilderten Form kann und wird sich die Geschichte nicht wiederholen. Wie uns die letzten Jahre mit ihrer unerschütterlichen Wachstumsgläubigkeit gezeigt haben, laufen Wirtschaftstheorie und -praxis allerdings immer Gefahr, ein zu kurzes Gedächtnis zu haben. Deshalb braucht eine Gesellschaft, um abschließend noch einmal Hobsbawm zu zitieren, die Historiker, die professionell an das erinnern, was ihre Mitbürger gerne vergessen möchten. (Peter Berger, DER STANDARD, Printausgabe, 27.10.2008)