"Was ich früher einmal ge-schrieben habe, hilft mir in der Gegenwart nicht weiter" - US-Romancier Paul Auster beginnt bei jedem Buch ganz von vorn.

Foto: Cremer

DER STANDARD: Mr. Auster, "Mann im Dunkel" ist Ihr bisher politischstes Buch. Sie erzählen von einem Amerika, in dem Bürgerkrieg herrscht, es 9/11 aber nie gegeben hat. War die Wahl von 2000 für dieses Szenario bestimmend?

Auster: Meine Vision ist in verschiedenen Stufen entstanden. Am Anfang stand mein Schock über das, was passiert war. Es war eine illegale Wahl. Ein Coup. Als sich Bush schließlich als so schrecklich herausstellte, wie ich angenommen hatte, wuchs in mir diese schauerliche Vorstellung, dass wir in einer Schattenwelt leben. In der wirklichen Welt würde Gore nun am Ende seiner zweiten Amtsperiode stehen, es gäbe keinen Krieg im Irak, 9/11 wäre ausgeblieben. Das war ein Teil. Dann war ich sehr frustriert darüber, dass Amerika diese Wahl einfach so hinnahm. Ich dachte, es müsste Demonstrationen geben. Doch Amerikaner haben diese Eigenschaft, sich mit allem einfach abfinden zu wollen: "Okay, wir haben verloren. Fair ist fair." Aber es war nichts fair.

DER STANDARD: Wie empfinden Sie die kulturelle Spaltung Amerikas?

Auster: Eigentlich befindet sich Amerika in einem Bürgerkrieg: Anstatt mit Patronen wird er mit Worten geführt. Wir sind ein geteiltes Land, und die beiden Teile können immer weniger miteinander in Austausch treten. Es gibt keinen gemeinsamen Diskurs. Die Trennung ist das Resultat einer Art Kulturkrieg. Wenn man die Situation heute mit jener der Depression der 30er-Jahre vergleicht, einer Zeit, in der es den Menschen schlecht ging, dann liegt da der Unterschied: Damals gab es nur politische Kämpfe, keine kulturellen. Themen wie Abtreibung, Kreationismus und Ähnliches waren nicht bedeutend, weil es dringlichere Probleme gab.

DER STANDARD: Barack Obama tritt mit dem Anspruch an, die beiden Teile wieder zusammenzubringen. Glauben Sie an ihn?

Auster: Obama würde das Land gerne wieder vereinigen, aber ich weiß nicht, ob das überhaupt möglich ist. Vielleicht langsam, in kleinen Schritten. Ich mag ihn, er ist ein sehr intelligenter, sicherer und kompetenter Mann, er wäre ein sehr guter Präsident. Wenn man sich eine Vorstellung von dem ungeheuren Druck auf seine Person macht, dann wird deutlich, welchen hohen Standards er folgt. Er kann sich keinen Fehler leisten, ja nicht einmal Ironie. Er darf nicht wütend werden, er muss seine Selbstbeherrschung in jedem Moment bewahren. Wie strapaziös, körperlich und geistig, muss ein Präsidentschaftswahlkampf sein? Jeden Tag muss man reisen, und das 18 Monate lang. Ich würde auseinanderbrechen und umkehren wollen, um zwei Monate nur zu schlafen. Ich wäre ein emotionelles Wrack. Ich bin schon jetzt ein Wrack, wo ich nur eine Buchtour mache. Eine Buchtour ist die mikroskropische Variante eines Präsidentschaftswahlkampfs. Ich habe solches Mitgefühl für ihn.

DER STANDARD: Die gegenwärtige Wirtschaftskrise spielt Obama in die Hände. Wird er am System viel ändern können?

Auster: Ich glaube nicht, dass es ein fundamentales Überdenken des Kapitalismus geben wird. Man wird weitere Regulierungen vornehmen müssen. Börsenkräche wie diesen hatten wir bisher nicht. Von Carter an, ab Reagan dann ganz deutlich, wurde alles dereguliert. Bush ließ alles hinfällig werden, das System lief außer Kontrolle. Die Märkte regulieren sich nicht selbst, das ist der große Irrtum. Sie nehmen keine Rücksicht auf soziale Anliegen wie Umweltschutz, Schulen etc. Das muss alles der Staat regeln. Bush und andere Konservative haben jedoch die Vorstellung einer Staatsgewalt ausgehöhlt.

DER STANDARD: Weil sie sagen, dass die Regierung nichts für die Menschen tun kann?

Auster: Ja, John Kenneth Galbraith, der berühmte Ökonom, hat einmal gesagt: Wenn es in Amerika einen Sozialismus gibt, dann immer nur einen für die Reichen.

DER STANDARD: Wie kann die Literatur auf solche Krisen reagieren? Ihr Buch legt das Augenmerk eher auf persönliche Traumata.

Auster: Das ist natürlich nicht meine Geschichte, sondern die von August Brill, der Hauptfigur. Das darf man nicht vergessen. Sie reflektiert seinen Geisteszustand.

DER STANDARD: Es gibt einen Bruch in der Mitte des Buches - danach geht es mehr um familiäre Verluste.

Auster: Es ist ein sehr intimes Buch über innere Sorgen, Schmerz, Erinnerungen, Wünsche, Kinder, Großeltern. Über all die schrecklichen Dinge, die diesen Menschen widerfahren sind. Brill erschafft seine Geschichte in einem Zustand des Dahinbrütens. Manche dieser Geschichten sind wahr, ich habe sie selbst erfahren. Zugleich gibt es diese Unterbrechungen: Brill denkt nach über Filme, die er gesehen hat. Die Filme legen den Boden für das, was später im Buch passiert: Wenn er von seiner Frau, der Großmutter seiner Enkeltochter, zu erzählen beginnt.

DER STANDARD: Es ist ein wenig so, als sähe man Brill dabei zu, wie sein Unbewusstes arbeitet. Erfinden Sie Ihre Geschichten auf vergleichbare Weise?

Auster: Es ist sehr schwer für mich, zu sagen, woher meine Ideen kommen. Das ist ein Mysterium. Es ist auf jeden Fall eine Art Arbeit des Unbewussten. Obwohl ich mein ganzes Leben lang schreibe, war ich nie bei der Geburt einer Idee dabei - wenn aus dem Nichts auf einmal etwas entsteht. Das hat etwas sehr Flüchtiges. Es muss wie eine synaptische Reaktion sein, die so schnell geschieht, dass man sie nicht sieht. Etwas ist da, was einen Moment davor noch nicht da war. In den meisten Fällen entstehen meine Charaktere völlig ausgeformt, inklusive ihrer Namen. Ich habe nur ganz selten die Namen ausgetauscht. Die erste Idee ist schon sehr reif. Ich wünschte, ich würde das alles besser verstehen. Ich sitze selbst im Dunkel.

DER STANDARD: Hat sich mit dem Älterwerden etwas beim Schreiben verändert?

Auster: Ich weiß nicht genau - ich habe das Gefühl, all diese Themen waren schon immer in mir, aber es brauchte all die Jahre, bis sie herauskamen. Über ein Buch wie Die Brooklyn-Revue - das von Freundschaft und Familie, vom gewöhnlichen Leben handelt - habe ich bereits vor zehn Jahren nachgedacht. Ich denke, all diese Dinge geschehen simultan. Doch man kann keine neun Bücher auf einmal schreiben (lacht). Der einzige Unterschied beim Schreiben ist, dass ich früher panisch wurde, wenn ich nicht weiterwusste. Wenn mir das heute passiert, werde ich nicht mehr so schnell nervös. Ich weiß, ich werde es hinkriegen, auch wenn es Zeit braucht. Wenn ich ein neues Buch beginne, habe ich allerdings noch immer das Gefühl, als würde ich ganz von vorn anfangen. Was ich früher getan habe, hilft mir nicht weiter in der Gegenwart.

DER STANDARD: In einem Interview mit Jonathan Lethem haben Sie einmal gesagt, Sie versuchen, ein essenzieller Autor zu sein.

Auster: Ich meinte damit den Prosastil. Es geht mir darum, Bücher zu schreiben, in denen jedes Wort zählt. Man soll kein Wort verändern können, weil es das Buch weniger reichhaltig machen würde. Man muss sich zwingen, nur das Allernotwendigste zu verwenden. Ich bin sehr an Narration interessiert, also daran, wie man eine Geschichte erschafft. Man benötigt eine gewisse Schnelligkeit beim Erzählen. Es darf keine ausufernden Beschreibungen geben - man muss ins Herz der Dinge zielen. Ich denke, wenn einem das gelingt, erzeugt man einen Sog.

DER STANDARD: In "Mann im Dunkel" schreiben Sie auch über Filme von Ozu, Renoir und de Sica. Was interessiert Sie daran, ein anderes Medium in Romane zu übertragen?

Auster: Das sind alles humanistische Filme, die mit dem Innenleben ihrer Figuren beschäftigt sind. Es gibt kaum Handlung. Die Filme sind sehr leise, haben aber enorme emotionelle Kraft. Wenn man über Filme schreibt, muss man immer etwas verbergen. Man darf nicht zu viele Details anführen, sonst verlangsamt sich alles. Und es gilt doch die Geschwindigkeit eines Films zu wahren: Über einen Film zu schreiben verwandelt die eigene Prosa.

(Dominik Kamalzadeh, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 25./26.10.2008)