Das Ende einer langen konfliktreichen Geschichte: Kurt Waldheims letzter Tag in der Hofburg, fotografisch begleitet von Rudolf Semotan

Foto: DER STANDARD/Rudolf Semotan

In den Jahren 1986 bis 1988 prallten konträre politische, generationsspezifische und geschichtspolitische Sichtweisen und Milieus offen und heftig aufeinander wie niemals zuvor (oder danach). In dieser "schwersten Krise für das staatliche Selbstverständnis Österreichs seit 1955" (M. Gehler) ging es nicht um Kurt Waldheims Kriegsvergangenheit allein, sondern auch - und viel mehr - um ein Um- oder Festschreiben der Selbst- und Fremdbilder Österreichs im Spiegel seiner NS-Vergangenheit, zugespitzt auf den Mythos von Österreich als Opfer des Nationalsozialismus. Es ging um einen politisch-symbolischen Kampf gegensätzlicher „kollektiver Erinnerungen" und Geschichtsbilder. All das hatte nachhaltige Auswirkungen auf die zukünftige Politik Österreichs.

Aufbrechende Generationenkonflikte

Es handelte sich dabei vor allem um einen aufbrechenden Generationenkonflikt: hie die Geburtsjahrgänge, die die NS-Zeit nicht mehr unmittelbar erlebt hatten und in der Nachkriegszeit und während der Prosperitätsjahre aufgewachsen waren, dort die älteren Generationen, die das NS-System noch selbst erfahren hatten und in unterschiedlicher Weise davon geprägt, oft traumatisiert oder den Schweigegeboten von Nachkriegstabus unterworfen waren.
Für diese älteren „Erfahrungsgenerationen" war die schließlich erfolgreiche wirtschaftliche und innen- wie außenpoliti-sche Rekonstruktion des Landes nach 1945 oberste Priorität gewesen, die durch jedes „Aufreißen der alten Wunden" und ein Neuverhandeln moralischer Werte nur gefährdet werden konnte. Die geschichtsmental Jüngeren dagegen waren unter der Fassade ihrer Waldheim- und Österreich-Kritik im Grunde genommen optimistischer gestimmt und fassten die ökonomischen und politischen Errungenschaften der Zweiten Republik schon als etwas Selbstverständliches auf, über das sie hinausgehen wollten.

Neue Protestkulturen

Während der Waldheim-Krise zeigte sich das Auftreten von Protestkulturen, die die traditionellen politischen Milieus überschritten. Dies lässt an Parallelen auch zu den ostmitteleuropäischen Bürgerbewegungen gegen den erstarrten Spätkommunismus denken. In der Partei- und Parlamentspolitik ging dieser Wandel, der sich auch auf vielen anderen gesellschaftlichen Ebenen zeigte, mit dem Aufstieg von zwei ganz konträren politischen Bewegungen einher. Dies war einerseits das Erstarken der grün-alternativen Bewegung bis zu ihrer Etablierung im Nationalrat. Andererseits aber begann der fast unaufhaltsam erscheinende Mandatsgewinn der FPÖ unter Jörg Haider; diesem gelang es, im Zuge der Waldheim-Krise zuerst die Führung seiner Partei zu übernehmen und sodann - unter der bis 1999 andauernden großen Koalition - seine „Bewegung" wesentlich zu verbreitern. Sie griff nun erst, auch als Nebeneffekt der demokratiepolitisch notwendigen Vranitzky'schen Eindämmungspolitik, über ihren traditionellen, national prodeutsch eingestellten, postnazistischen rechten Rand hinaus und sprach ein breiteres Segment von ausländer- wie EU-feindlichen Wählerschichten an.

Lockerung der Lagerbindung

Diese Veränderungen in der politischen Landschaft lassen sich natürlich auch auf eine beschleunigte, sich schon seit den 1980er-Jahren abzeichnende Lockerung der „Lager"-Bindungen der österreichischen Wähler, die vor allem auf Kosten der ÖVP und der SPÖ ging, zurückführen. Es kam zu einer markanten, jedoch nicht vollkommenen Erosion der Sozialpartnerschaft, die die Zweite Republik jahrzehntelang geprägt hat.

Gleichzeitig setzte unter dem Zeichen europäischer und innerösterreichischer „neoliberaler" Politikvorstellungen ein rapider Umbau der österreichischen Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur- und Sozialpolitik ein. All dies korrespondierte auch mit einem „Umschreiben" der österreichischen Zeitgeschichte. Aber mehr noch als die Geschichtswissenschaft haben Magazine wie profil und einzelne Tageszeitungen wie der in dieser Periode gegründete Standard und Journalisten in Rundfunk und Fernsehen zur Diffusion neuer, so erst politisch wirksam werdender österreichkritischer Geschichts-„Erzählungen" beigetragen. Ebenso haben Schriftsteller, bildende Künstler, Ausstellungsmacher, Medienkünstler, die in einer bunten Mischung an den Anti-Waldheim-Demonstrationen teilnahmen bei der Entstehung veränderter Geschichtsbilder eine wichtige Rolle gespielt.

In manchem schien sich die Geschichte während der innen- und außenpolitischen Krise 2000 um die Bildung der kleinen Koalition (als Farce?) zu wiederholen. Es gab wiederum internationale Verwicklungen und nur aus der vorherigen Waldheim-Affäre erklärbare temporäre (unüberlegte und inkonsequente) Sanktionen der EU-Staaten gegen Österreich gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ. Im Inneren das Landes traten ähnliche Protestformen in Erscheinung („Donnerstagsdemonstrationen"), aber auch österreichische Trotzreaktionen gegen eine europäische „neue Welt" wurden nach der Jahrhundertwende wieder erkennbar.
Dasselbe kann man auch insgesamt von der „Haider-Anomalie", als die heute der wahlpolitische Höhenflug und die Regierungsteilnahme der FPÖ erscheinen, sagen; im europäischen Kontext (nach Österreichs EU-Beitritt) wurde sie allerdings wesentlich entschärft. Dennoch bestehen auch heute alte Vorurteilsstrukturen, Einstellungen und private Geschichtsbilder als „Gegengedächtnisse" (M. Reiter) gegen die offiziellen Vergangenheitsbilder, in denen der traditionelle Opfermythos verblasst ist, weiter. Denn diese Art „sozialen Gedächtnisses" lebt noch in vielen Familien- und Generationenerinnerungen. Daraus speisten sich auch Elemente der rechtsnationalistischen Protestkultur um Haider und Strache, die gelegentlich in das politische System überschwappen konnten.

Insofern sind die geschichtspolitischen Konflikte um Waldheim - trotz des Ferner-Rückens der NS-Zeit - noch nicht beendet. Die Waldheim-Krise erscheint daher im Rückblick als ambivalent, als Offenlegung der vorhandenen vergangenheitsorientierten fremdenfeindlichen Protestpotenziale und zugleich als Katalysator für Artikula_tionsformen der (damals entstehenden und danach stärker werdenden) österreichischen Zivilgesellschaft. Mit der Waldheim-Krise begann jedenfalls ein grundlegender (vielleicht 2008 sich wieder beschleunigender) politisch-kultureller Wandel der Zweiten Republik. (Gerhard Botz*, DER STANDARD, Printausgabe, 18./19.10.2008)