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Der Palazzo Reale in Turin

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Die Pinacoteca Agnelli

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Wer durch die schönen barocken Ausstellungsräume des Castello di Rivoli schlendert, sieht sich plötzlich im letzten Winkel einem Rennwagen gegenüber. Obwohl das Auto eher aus den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts zu stammen scheint, ist es ein Kunstwerk aus den Sechziger jahren von Salvatore Scarpitta. In Turin wird dieses Werk zum Symbol, weil es in Form und Darstellung den Übergang der ehemaligen Industriemetropole Turin zu einer Kunstmetropole abbilden kann.

In diesem Übergang definiert sich die ehemalige Hauptstadt Italiens während des Risorgimento, der italienischen Einheits- und Unabhängigkeitsbewegung, als ein Konkurrent zu Mailand, das bis dato das Zentrum der italienischen Kunst war. Dabei kann Turin auch selbst auf eine wichtige Tradition verweisen: Die Stadt im Piemont war eine der wichtigen Geburtstätten der so genannten Arte Povera, die ein wesentlicher Beitrag Italiens zur zeitgenössischen Kunst war.

Nicht ausreichend

Aber diese Tradition ist nicht ausreichend, um sich im neuen Jahrtausend für die Zukunft zu profilieren. In der Galleria D'Arte Moderna e Contemporanea sind zwar wichtige Vertreter der Arte Povera wie Mario Merz, Giulio Paolini und Michelangelo Pistoletto vertreten, aber die Sammlung geht auch zurück bis ins 19. Jahrhundert.

Als künstlerischer Direktor der zweiten Internationalen Biennale junger Kunst im Jahr 2002 wies der Altmeister der Arte Povera, Michelangelo Pistoletto, den Weg in die Zukunft. Ausstellungsort war die gesamte Stadt, und anstatt sich nur auf die bildende Kunst zu konzentrieren, wurden auch Kino, Internet, Theater, Musik und Kochkunst in das Programm integriert. In dieser Überschreitung wurde die Biennale mit dem einprägsamen Titel "Big Social Game" zu einem Beispiel für eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit junger Kunst im sozialen Umfeld einer Stadt.

Davon lässt sich auch sprechen angesichts der Eröffnung eines Ausstellungsgebäudes der Fondazione Sandretto Re Rebaudengo in Turin, dem ersten Neubau eines Kunstcenters in Italien seit 1988. Als Förderin zeitgenössischer Kunst ist der Name von Sandretto Re Rebaudengo über Italien hinaus bekannt. Mit dem Bau des neuen Zentrums für zeitgenössische Kunst in einem ehemaligen Industriegebiet hat die Stiftung ihre Aktivitäten ausgeweitet, um sich auch einem breiten Publikum zu öffnen.

"Exit"

Als erste große Ausstellung in dem schlichten, aber gut ausgestatteten Gebäude präsentierte Francesco Bonami, Direktor der diesjährigen Kunst-Biennale von Venedig, unter dem Titel "Exit" eine "Neue Geographie der italienischen Kunst". Das war ein notwendiges Unternehmen, denn die zeitgenössische Kunst Italiens hat auf internationalem Parkett einen schweren Stand. So war "Exit" denn auch ein Zeichen für ein neu erwachtes Selbstbewusstsein, das dann auch auf die Stadt und das Viertel selbst zurückstrahlt.

Schon etablieren sich rund um das Haus in der Via Modena in San Paolo, ehemals Heimatstätte von Lancia, neue Cafés, und schon vorhandene Restaurants werden runderneuert. Es ließe sich von einem Beaubourg-Effekt sprechen, der zum ersten Mal bei der Eröffnung des Centre Pompidou in Paris auftrat und das ganze Viertel drumherum veränderte. Ein derartiger Effekt mag für die ehemalige Industriemetropole durchaus erwünscht sein.

Turin ist dabei in der glücklichen Lage, schon auf ähnliche Erfahrungen zurückgreifen zu können. Als im Jahre 1982 die Automobilproduktion von Fiat am Stammsitz, im so genannten Lingotto im Süden der Stadt, aufgegeben wurde, musste über die Weiternutzung des Werkkomplexes nachgedacht werden. An einen Abbruch dieser Ikone des industriellen Zeitalters war nicht zu denken.

Aus einem Fabriksgebäude

So wurde aus dem Fabriksgebäude mit einer Längenausdehnung von einem halben Kilometer in mehr als zwanzig Jahren ein Dienstleistungszentrum mit Einkaufscenter, Hotel und Schulen. Im doppelten Sinne wurde das Gesamtprojekt im Herbst vergangenen Jahres mit der Eröffnung der Pinacoteca Giovanni und Marella Agnelli gekrönt. Renzo Pianos Gebäude für die Sammlung thront über dem Lingotto als ein Schrein, italienisch "scrigno", was dann auch als offizielle Bezeichnung benutzt wird.

Dieser Schrein beherbergt allerdings nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus der Sammlung, deren Ausmaße wohl nur der vor kurzem verstorbene Giovanni Agnelli und seine Frau kannten beziehungsweise kennen. Mit Werken von Tiepolo, Canaletto und Bellotto bis zu Manet, Picasso und Modigliani überbrückt die Ausstellung in Windeseile zweihundert Jahre abendländischer Malerei. Gino Severini und Giacomo Balla vertreten die moderne Malerei Italiens, die dann auch die Geschichte Italiens birgt. Das tut in ganz besonderer Weise Giacomo Ballas "Velocità astratta" aus dem Jahr 1913, deren Rückseite zwanzig Jahre später vom Künstler noch einmal für ein Gemälde besonderer Art verwendet wurde. Verborgen in der Ausstellung selbst, aber im Katalog deutlich aufgeführt, hat der Künstler Mussolinis "Marsch auf Rom" als realistische Allegorie für die neue Zeit in Öl festgehalten.

Das schon erwähnte Castello di Rivoli als Museum zeitgenössischer Kunst ruht auf Fundamenten aus dem Mittelalter und wurde im siebzehnten Jahrhundert Stammsitz des Fürstentums von Savoyen. Nachdem es lange leer stand, wurde es in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts zu einem Museum umgebaut.

"Hunger nach Bildern"

Erst in dessen letztem Jahrzehnt wurde auch die so genannte Manica Lunga vollständig zeitgemäß wiederhergestellt und bietet heute eine der längsten Galerien für Kunstausstellungen. Wenn dort dann eine Ausstellung zur "Transavantguardia" , jenem sprichwörtlichen "Hunger nach Bildern" in der italienischen Version, zu sehen ist, dann ist auch das wieder doppeldeutig: Die Avantgarde wird in Turin immer wieder überschritten, indem die Kunst tatsächlich den Stadtraum erobert wie in dem Projekt "Luci d'Artista". Künstler wie Giulio Paolini, Daniel Buren oder Mario Merz erleuchten mit ihren Lichtkunstarbeiten die Turiner Nächte. Und tagsüber zeigen in dem Projekt "ManifesTO" andere Künstler auf großformatigen Postern dafür erstellte Werke.

Mit diesen Projekten im Rücken, geschützt von achtzehn Kilometern Arkaden und vor sich die Zukunft der Olympischen Winterspiele 2006, kann man sich erlauben, New York als Postkarte auf einer umgedrehten Leinwand als Poster zu präsentieren, wie es Nicas Lucà in "ManifesTO" getan hat.

Avantgarde ist hier dann auch "Artissima", der italienische Superlativ von Kunst, so der passende Name der Turiner Kunstmesse, die in einem idealen Ambiente mit internationaler Beteiligung die Kunst von morgen zeigte. Vielleicht braucht man viel Vergangenheit, um die Zukunft zu erobern. Turin bietet beides in überreichem Maße an. (Der Standard/rondo/28/02/2003)