Was haben wir uns eigentlich erwartet von der Historikerkommission, die vor vier Jahren ihre Tätigkeit aufnahm und nun 14.000 Seiten ins Netz stellte? Ein Ergebnis?

Eine Quantifizierung des Unrechts in der NS-Zeit und der geleisteten Wiedergutmachung? Eine Einschätzung in der Frage, wie gut oder wie schlecht sich die Republik Österreich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus verhalten hat? Eine Anleitung dahingehend, was noch zu tun sei, um den Zustand zu erreichen, kein schlechtes Gewissen mehr haben zu müssen gegenüber den Hunderttausenden, die aus rassischen oder politischen Gründen verfolgt, vertrieben, ermordet wurden?

Wer sich eine Beantwortung dieser oder ähnlicher Fragen erhofft hatte, wird von dem Ergebnis, das Clemens Jabloner am Montag als Vorsitzender der Historikerkommission präsentierte, eher enttäuscht sein: Der Schlussbericht liefert kein einziges Argument, irgendwann einmal einen Schlussstrich unter ein ruhmloses Kapitel österreichischer Geschichte setzen zu können.

Den Forschern selbst ist kein Vorwurf zu machen: Angesichts der unzähligen Akten, die mehr oder weniger bewusst skartiert wurden, ist es erstaunlich, was sie an Material zusammengetragen und gesichtet haben. Und die Ergebnisse sind erschütternd. Denn das Ungeheuerliche liegt nicht so sehr in der generellen Linie des alle Bereiche umfassenden Vermögensentzugs, der systematischen Ermordung und Vernichtung einerseits, der schleppenden Wiedergutmachungspraktiken andererseits: Die Machenschaften und Strategien vor 1945 wie danach waren bekannt. Oder sollten es sein.

Das Ungeheuerliche liegt vielmehr in den Details, in den Einzelschicksalen, mitunter sogar in den Nebensächlichkeiten. Zum Beispiel, dass man den Flüchtlingen vor der Abreise die Koffer gestohlen hat. Nachdem diese unzählige bürokratische Hürden zu überwinden hatten, wenigstens ein paar Habseligkeiten zu retten. Und zwar die für das Regime wertlosen. Denn der Schmuck, die optischen Geräte, die Pelze, das Tafelsilber, die neuwertigen Güter waren längst eingezogen oder von der Ausfuhr gesperrt worden.

Diese wertlosen Gegenstände aber waren für viele Teil der Identität: ein Foto, ein Schmusetier, eine Erinnerung. Selbst diese Koffer hat man organisiert entwendet. Und um zwei Reichsmark verhökert, wie in einem Bericht über die "Arisierung von Mobilien" bloß als Erwähnung nachzulesen ist. Wie sind allein solche unwiederbringlichen Verluste zu bewerten?

Der Schlussbericht der Historikerkommission, eine Zusammenschau aus über 50 Einzelstudien, kann daher gar nicht anders, als bloß die komplizierten Vorgänge bei "Arisierung", Raub, Schikane, Beschneidung der Menschenwürde, Rückstellung und Entschädigung wiederzuspiegeln: Eine weitere Zusammenfassung würde, wie es im Resümee heißt, zu einer unzulässigen Vereinfachung und letztlich zu einer Banalisierung der Aussagen führen.

Zudem ist die Historikerkommission keine moralische Instanz: Sie konnte nur versuchen, Fakten für eine Entscheidungsfindung aufzubereiten, ohne die Erkenntnisse in simple Schemata einzupassen. Das hat sie auch getan: Sie räumt mit dem Vorurteil auf, Österreich habe in Sachen Entschädigung nichts unternommen, zeigt aber auch, dass das Procedere undurchsichtig war, dass für Kleingewerbetreibende oder vermögenslose Beschäftigte die Beraubungen durch das NS-Regime "im Großen und Ganzen" auch nach 1945 bestehen blieben.

Die Historikerkommission verlangt damit den Verantwortlichen ab, sich mit der Rolle der Republik nicht nur in der Nachkriegszeit, sondern bis heute eingehend auseinander zu setzen. Wenn die Repräsentanten der Republik dieser impliziten Forderung des Schlussberichts nachkommen sollten, kann es nur eine Antwort geben: Viele Fälle müssen neu aufgerollt werden. Und die Arbeit der Kommission muss weitergehen. Auch wenn es schmerzt. (DER STANDARD, Printausgabe, 25.2.2003)