Unter Verdacht: Kundera

 Prag – Der in Paris lebende Autor Milan Kundera (79) sieht sich in seiner tschechischen Heimat schwerwiegenden Vorwürfen ausgesetzt. Laut Bericht der Wochenzeitschrift Respekt soll der weltweit anerkannte Romancier 1950 als Denunziant für den Geheimdienst StB gewirkt haben. Mit niederschmetterndem Erfolg: Kundera, damals um ein Studium an der Prager Filmhochschule bemüht, dürfte laut Darstellung von Respekt den Aufenthalt des antikommunistischen Aktivisten Miroslav Dvoracek an das stalinistische Klement-Gottwald-Regime verraten haben.

Aufenthaltsort gemeldet

Dvoracek, der ursprünglich in der damaligen CSSR Flieger werden wollte, hatte die sozialistische Republik illegal verlassen und arbeitete fortan für westliche Spionagedienste. Auf "Heimatreise" schlüpfte er bei einer Freundin unter; Kundera soll den Aufenthaltsort laut Polizeiprotokoll gemeldet haben. Dvoraceks Todesstrafe wurde in 22 Jahre schweren Kerkers umgewandelt. Der Verurteilte wurde zum Uranerzabbau herangezogen und erlitt schwere gesundheitliche Schäden. Dvoracek, heute in Schweden ansässig, lebte bisher im festen Glauben, von seiner damaligen Freundin "verpfiffen" worden zu sein.

Kundera, der ein gesucht distanziertes Verhältnis zur tschechischen Heimat pflegt, soll ein Fax der Respekt-Redaktion bis dato unbeantwortet gelassen haben. In einem Telefon-Interview mit der tschechischen Nachrichtenagentur CTK hat Kunder den Bericht jedoch zurückgewiesen: Er habe niemanden denunziert, der Bericht sei eine Lüge, sagte der Schrifsteller.

Sein Werk in neuem Licht

Bisher galt der Autor eher als "Opfer" der realsozialistischen Machtpolitik: Als Folge der Parteinahme für den Reformkurs unter Dubèek wurde 1968 ein Publikationsverbot gegen ihn erlassen. 1975 übersiedelte der Modernist in der Nabokov-Nachfolge in das französische Rennes; 1980 erhielt er die Staatsbürgerschaft seines Gastlandes. Die Enthüllung wirft zwangsläufig ein neues Licht auf Kunderas Romanwerk: Immerhin handeln Arbeiten wie Der Scherz (1965) von nichts Geringerem als der Willkür eines omnipotenten Zwangssystems, das selbst harmlose Postkartengrüße als "konterrevolutionäre" Wühlarbeit ahndet. Kunderas moralischer Sockel begänne bei tatsächlichem Erweis einer Schuld unweigerlich zu bröckeln. (APA, Ronald Pohl, DER STANDARD Printausgabe, 14.10.2008)