Ruth Klüger besucht ihre Geburtsstadt Wien. Im Gepäck hat sie ihr heuer erschienenes Buch "unterwegs verloren".

Foto: Isolde Ohlbaum

Wien - Als was hat man Ruth Klüger nicht schon alles bezeichnet. Als verbal schlagfertige Feministin, als gelernte Pessimistin und als eine, die sich Leben und Alltag durch ihre Unversöhnlichkeit nicht einfach mache - den anderen auch nicht. Immer wieder und vor allem aber ist sie "die Auschwitz-Überlebende". Klüger dazu: "Es ist wirklich nicht ein Teil meiner Persönlichkeit, das ist etwas, was einem zugestoßen ist".

Die Persönlichkeit sei mehr als das erlebte Grauen. "Ich bin alles Mögliche. Ich bin vierfache Großmutter, und ich bin eine passionierte Krimileserin, und ich habe über das barocke Epigramm promoviert. Und ich bin eben auch eine gebürtige Wienerin."

In Wien hat die 1931 geborene Ruth Klüger, wie sie in unterwegs verloren, dem zweiten, eben erschienenen Band ihrer Erinnerungen schreibt, "einmal dazugehört, und gleichzeitig wurde mir und den Meinen auf unvorstellbar krasse und ordinäre Weise klargemacht, dass wir nicht dazugehörten", und: "Ich werde bis ans Lebensende wiederkommen, vom Flughafen in Schwechat oder vom Westbahnhof, an dem Knoten herumzerren, bis es unter den Fingernägeln blutet, und ihn doch nicht lösen."

Obwohl Ruth Klüger auf eine glänzende akademische Karriere als Literaturwissenschafterin zurückblickt, unter anderem als erste und einzige Ordinaria des Germanistischen Instituts der Princeton-Universität, und zahlreiche Aufsätze und Essays publizierte, bleibt sie für das breite Publikum die Autorin eines einzelnen Werks: weiter leben. In dem 1992 erschienenen, als Bericht und Reflexion angelegten Erinnerungsbuch, das den lakonischen Untertitel eine Jugend trägt, beschreibt sie nüchtern und frei von Pathos eine Kindheit im immer antisemitischer werdenden Wien und die Deportation als Zwölfjährige nach Theresienstadt und Auschwitz-Birkenau.

Sie schildert auch, wie sie durch die Hilfe einer Unbekannten der Selektion entkam und Zwangsarbeiterin im Lager Christianstadt wurde. Schließlich gelang ihr mit ihrer Mutter auf einem der "Todesmärsche" die Flucht. In München holte sie das Abitur nach, inskribierte sich in Regensburg an der Hochschule und emigrierte 1947 in die USA, wo sie heute, unterbrochen durch Aufenthalte in ihrer Göttinger Wohnung, lebt.

weiter leben, das literarische Debüt einer 61-Jährigen, war ein Sensationserfolg. 250.000 Exemplare wurden von dem Buch verkauft. Zum Glück, denn selten wurde so präzis und schonungslos über das Erinnern und den Versuch des Bewältigens, über das Bewahren und Verdrängen des Erlebten und den kollektiven Umgang mit den Schrecken der Vergangenheit und ihren Opfern, Tätern und Zeugen geschrieben wie hier.

Die Sammelwut der "Shoah-Beflissenen" der Oral History, die Zeugen zu Rohmaterial macht, ist Ruth Klüger suspekt, die KZ-Gedenkstätten auch, denn "es liegt dieser Museumskultur ein tiefer Aberglaube zugrunde, nämlich dass die Gespenster gerade dort zu fassen seien, wo sie als Lebende aufhörten zu sein".

Der Umgang mit den Gespenstern der Vergangenheit, den Verlorenen und Toten, die kommen und gehen, wie es ihnen gefällt, ewig gleich und doch in immer neuen Verkleidungen, ist ein zentrales Thema beider Bände der Autobiografie.

Kraft der Lyrik

Bannen lassen sich diese Gespenster nicht, doch "mit dem Älterwerden" weichen sie zurück, heißt es im ersten Satz von unterwegs verloren (Zsolnay). Der Abschied von ihnen bestand auch aus der späten Entfernung der eintätowierten KZ-Nummer in einer kalifornischen Laser-Klinik, mit der unterwegs verloren beginnt. Um die so schwierigen wie erfolgreichen Jahre in der "neuen" und die Wiederbegegnungen mit der "alten" Welt geht es in dem Band, um den mühsamen Einstieg in die akademische Karriere, die gescheiterte Ehe, um die Entfremdung von den beiden Söhnen, den Tod der Mutter und die späte teilweise Rückkehr nach Europa und Wien.

Ein versöhnliches Buch oder eine bruchlose Erfolgsgeschichte ist unterwegs verloren, das nicht zuletzt das Leben einer Alleinerziehenden in den 50er- und 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts schildert und auch Depressionen und Selbstmordgedanken nicht auslässt, keineswegs geworden. Geschildert wird dafür, wie mühsam Ruth Klüger, der ihre Muttersprache zur Sprache des Feindes, der Befehle und Beschimpfungen wurde, wieder einen Zugang zum von ihr geliebten Deutsch fand. Dazu musste sie erst Anglistik studieren und Bibliothekarin werden, erst mit 31 wandte sie sich der Germanistik zu.

Ruth Klüger hat mit Gedichten ge- und überlebt. Es war auswendig gelernte Lyrik, die es ihr während der Appelle im KZ ermöglichte, in eine andere Welt zu entkommen. An dieser Bedeutung der Literatur für das Leben lässt sie in weiter leben keinen Zweifel: "So gut reden hab ich wie die anderen, Adorno vorweg, ich meine die Experten in Sachen Ethik, Literatur und Wirklichkeit, die fordern, man möge über, von und nach Auschwitz keine Gedichte schreiben. Die Forderung muss von solchen stammen, die die gebundene Sprache entbehren können, weil sie diese nie gebraucht, verwendet haben, um sich seelisch über Wasser zu halten." Ruth Klügers Bücher kann man nicht entbehren, man sollte sie lesen und wieder lesen. "Was aber bleibet, stiften die Dichter", hat der von Klüger geschätzte Hölderlin gesagt.

Am Ende von unterwegs verloren klingt das so: "Mit jedem Verlust gleitet der Fuß abwärts, auf jeder Reise bröckelt ein Stück Ich ab. Was unterwegs verloren geht, bist immer du selbst, und der nächste Ankunftsort besteht, wie die vorigen, aus dem Jetzt und dem Damals, es gibt keinen neuen Anfang, nur Fortsetzungen auf einem Weg, der zusehends schmaler wird." (Stefan Gmünder, DER STANDARD/Printausgabe, 06.10.2008)