Posen wider die Staatsräson: Ole Lagerpusch  und Andreas Döhler (re.) in "Leonce und Lena"  am Thalia Theater Hamburg.

Foto: Arno Declair

Bis vor kurzem lag die Welt, zu der Hamburg so gern das große Tor sein will, im Westen. Oder im Süden. Im Osten war die Zone. Seit dort aber die gernegroße Hauptstadt ihren anschwellenden Sog entfaltet, wenden sich gernegroße Hamburger auf ihrem Weg in die Welt Richtung Osten. Gegen Berlins Lockformel "arm, aber sexy" ist die Hansestadt allein schon deshalb wehrlos, weil sie akkurat das Gegenteil davon ist.

Nach Wolf Biermann und der Bild-Zeitung zieht es nächstes Jahr auch Ulrich Khuon, seit 2000 überaus erfolgreicher Intendant am Thalia Theater, an die Spree, wo er die Leitung des Deutschen Theaters übernehmen wird. Vermutlich haben die Hamburger noch nie einen Theatermacher so ungern weggehen lassen.

Bleibt also noch eine Theatersaison lang Zeit, sich von vertraut gewordenen Bühnenansichten zu verabschieden und über diesen ungeheuren Erfolg zu rätseln. Denn im Gegensatz zum Kulinariker Jürgen Flimm, der stets darauf achtete, dass es allen schmeckte, kultivierte dessen Nachfolger Khuon am Thalia von Beginn an einen ästhetischen Eigensinn, der sich um Konsens scheinbar wenig scherte, was auch prompt in einer der ersten Premieren einen früheren Bürgermeister zur öffentlichen Ermahnung provozierte, anständige Stücke doch bitteschön auch anständig zu inszenieren.

Neue szenische Vignetten

Schaute man aber etwas länger und genauer hin, sah man, dass das Khuon-Theater höchstens unanständig clever agierte. Es versorgte eine diskursmüde und differenzierungsgenügsam gewordene Kundschaft, die gerade dabei war, sich an die komplexitätsreduzierten Internet-Icons zu gewöhnen, mit neudesignten szenischen Vignetten, die, hatte man sich an ihre Optik gewöhnt, eine rasche Orientierung darüber erlaubten, wohin der Bühnenhase lief. Die anfängliche Irritation wich einem erleichterten "Heureka!" : Plötzlich diese Übersicht. Damit war das Theater auf der Höhe der Zeitgenossen, und die zuvor beanstandete Subversion mutierte auf verblüffende Weise in krisenfeste Affirmation.

Wie flott es läuft, war auch bei der ersten Premiere dieser Saison zu bestaunen. Regisseur Dimiter Gotscheff legt die Schlafsackbewohner dieser elenden Erde - also das, was von Georg Büchners Leonce und Lena gar nicht übrig bleiben kann, weil darin das (Geistes-)Elend in den allerhöchsten Kreisen ressortiert -, zwischen zwei Scheiben Heiner Müller und klackst etwas Soße vom Hessischen Landboten drüber. In der gut kalkulierten Hoffnung, dass bußfertige Hamburger Bürger nach diesem Sandwich schnappen.

Büchners Witz, der ganze Duodezfürstendynastien hohnlachend erledigt, sein Spott über die von Makkaroni träumende Naturromantik sind auf kommode Anekdotenhöhe herunterproletarisiert. Und? Jubel! In dieser Umgebung sind Figuren, die auf nichts als auf sich selbst verweisen, die also die Bühne nicht als Schaufenster zweckentfremden, weniger gut gelitten. Die niederländische Regisseurin Alize Zandwijk aber schaut gerade solchen Figuren staunend dabei zu, wie sie sind, was sie geworden sind. In Happiness, einem Film des US-Amerikaners Todd Solondz, den John von Düffel behutsam übersetzt hat, sind die vom Pursuit of Happiness Ausgelaugten dazu verdammt, im Treibhaus der eingebildeten Glückseligkeit ihre Triebe auszuschwitzen.

Im Verein mit ihren grandiosen Schauspielern gelingt Zandwijk ein beklemmendes, schreckenerregendes Sittenbild des alltäglichen Grauens, das eine Ahnung davon vermittelt, was in der Ära Khuon jenseits der Kultivierung von (mehr oder minder) interessanten Regiehandschriften mit diesem exzellenten Ensemble möglich gewesen wäre. Für Khuons designierten Nachfolger Joachim Lux, bisher Burgtheater-Dramaturg, bleibt also gottlob mehr, als nur ein reiches Erbe zu verwalten. (Oswald Demattia aus Hamburg / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3.10.2008)