Als die Verhältnisse bei Kafka in die Vertikale rutschten - 3. v. li. Oliver Mallison, ein anderer K., im Bett oben: Lena Lauzemis.

Foto: Declair

Die Prosa lebt!

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In Franz Kafkas fragmentarischem Prozess-Roman erwehrt sich JosefK., der "erste Prokurist einer großen Bank" , der Nachstellungen durch eine nie zur Gänze in Erscheinung tretende Gerichtsbehörde. Vielleicht lässt sich die kaum jemals erwiesene "Schuld" des armen K. wie folgt zusammenfassen: Nur der unklar Angeklagte ist befähigt, ein Komödienheld zu werden. Denn die Rechtsverhältnisse sind aus den Fugen. Was die famose neue Münchner Prozess-Inszenierung überdies beglaubigt: Die Fadenscheinigkeit des Tuchs, das ein scheinbar praktisch veranlagter Schreiber über vollends verwickelte Verhältnisse breitet, wird vom Leser als Tarnung erkannt.

Kafka, der ewige Junggeselle, lüftet immer nur den ersten Schleier. Die Hoffnung auf die Entdeckung des "Geheimnisses" kann sich jeder talmudisch ambitionierte Entzifferer getrost ersparen. Aber der unglückselige K., der schließlich ein Messer im Herzen stecken hat, teilt eben auch das Schicksal des Slapstick-Helden, der stets auf der nächstbesten Bananenschale ausrutscht: Aus dem Wissen um die Macht des Strauchelns bezieht das Publikum der Jahrmarktshallen, der Illusionsmedien sein boshaftes Gaudium - und Kafka war, wie man weiß, ein begeisterter Jünger der in den 1910er-Jahren noch blutjungen Filmkunst.

Der Druck banaler Alltagsverhältnisse reicht in den Münchner Kammerspielen spielend aus, um den unseligen K. in acht Stummfilmfiguren beiderlei Geschlechts aufzuspalten. Besser noch: Regisseur/Ausstatter Andreas Kriegenburg hat auf die Münchner Bühne ein Gipsauge gestellt. In dessen ovaler Mitte, sozusagen im Durchstichsloch eines Träumers, rotiert ein Hubpodest, das immer wieder gemächlich in die Vertikale kippt, um schließlich als Kletterwand den Schrecken einer hölzernen Eiger-Nordwand zu verbreiten.

Auf dieser Weltausschnittsscheibe waltet der berückende Zauber eines physikalischen Skandals. Und Josef K.s Untermietzimmer hat Kriegenburg einfach an die Wand gesteckt. Zwei Tische, 13Stühle und eine Unzahl halb verwehter Konzipientenzettel haften in bedrohlicher Schieflage, ein Mokkatässchen hängt am Magneten fest, Schauspielerleiber werden wie Insektenlarven um erratisch herausstehende Pflöcke geklemmt und herumgedreht.

Geschminkte Jedermänner

Die zwei "Wächter" , die K. eines Morgens heimsuchen, um ihn zum Delinquenten zu erklären und ihm obendrein sein Frühstück wegzufressen, sind alle aus demselben Holz geschnitzt: Es obwaltet die grimassierende Angst der maskierten Unscheinbarkeit vor der albtraumartigen Gemeinheit.

Weil Kriegenburg aber noch einmal die frühe Blütezeit der Moderne aus den Kopierwerken herausgekramt hat, bekommt man es in diesem schwarz-weiß getünchten Kafka-Land eben mit einer Horde mittlerer Angestellter zu tun. Unglück vervielfältigt sich eben. Das Prinzip dieser Story heißt: Tod durch Sprossung. Die Punktaugen aufgesperrt, Wangen und Stirnen weiß gepudert, die Fräcke ängstlich zugeknöpft: Acht Damen und Herren überwinden die Romanstrecken wie auf straff gespannten Nervenseilen. Kriegenburgs Truppe ist ein artistischer, käferkrabbelnder Hochseilakt gelungen, der im Splitterregen kalter Tangoklänge die Vorteile zeitgemäßer Romanadaptierungen mit schwungvoller Emphase vor Augen führt.

Autoren wie Kafka, der die Arbeit am Prozess bekanntlich irgendwann aufgab, folgen keiner Fabel - sie präferieren eine Logik der Verkettung, die den Bedürfnissen und Ansprüchen des zeitgenössischen Theaters ideal entgegenkommt. Figuren, die in einem Augenblick noch so K.- wie Kafka-mäßig ihr eigenes Schicksal rationalisieren, treten ins Glied zurück. Sie geraten in kolossale Behauptungszwänge - ihre Darlegungen tauchen wie Arien aus einem Dämmer hervor. So bei dem verhuschten Oliver Mallison, der genialen Annette Paulmann. Münchner Glück, ganz ohne Wies'n. (Ronald Pohl aus München, DER STANDARD/Printausgabe, 27./28.09.2008)