Saint Etienne: "London Conversations"
Im Jänner beglückte das Londoner Trio Celestial seine Fanclub-Mitglieder mit dem 4-Discs-Set "Boxette" voller Raritäten - bald ist mit etwas Verspätung auch ein veritables "Best of" dran: Die Doppel-CD erscheint in limitierter Auflage auch mit DVD und umfasst knapp zwei Jahrzehnte musikalisches Schaffen zwischen Sixties-Pop, House, Dub, Electronica und - Kunstgriff aller Kunstgriffe, delight of delights - intelligenter Eurodisco. Allen, die Saint Etienne bislang nicht kannten (was die Frage aufwirft: ihr kennt die beste Band der Welt noch nicht?) sehr ans Herz gelegter Erstkontakt mit Großtaten wie "Avenue", "Like A Motorway" oder "Hobart Paving". Und für Langzeit-Fans ist auf dem Sampler endlich das legendenumwobene, nicht zu kriegende "Lover Plays The Bass" enthalten - auch wenn der Rest bekannt ist. Aber Saint Etienne waren eben immer vor allem eines: Musik von Platten- sammlern für Plattensammler. (Universal)

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Saint Etienne
London Conversations

Coverfoto: Universal

Myra Davies: "Cities And Girls"
Ursula Rucker ist nicht die einzige Spoken Word-Künstlerin aus Übersee, die eine deutsche Label-Heimat gefunden hat. Während aber die US-Amerikanerin musikalisch fest im Flow der HipHop-Kultur verankert bleibt, setzt die Kanadierin Myra Davies auf deutlich sprödere Berliner Elektronik: Einmal mehr kooperierte sie mit der Musikerin Gudrun Gut bzw. deren "Klassenkameraden" Alexander Hacke und Danielle de Picciotto. Die beiden vertonten kürzlich Brants "Narrenschiff" und prompt packen sie für das überflussgesellschaftskritische "Stuff" noch mal das Schifferklavier aus. Highlight ist dennoch Guts minimalistischer Einsatz der Elektronik, der zum hypnotischen Redefluss Davies' das ideale Spannungsfeld aufbaut. (Monika/Hoanzl)

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MySpace-Seite von Myra Davies

Coverfoto: Moabit

Tomte: "Heureka"
Erfolg verleiht offenbar Flügel: Jedenfalls sind Tomte 2006 mit "Buchstaben über der Stadt" ziemlich weit in die Charts vorgestoßen - jetzt lehnen sie sich etwas weiter aus dem Fenster als beim doch recht stromlinienförmigen Vorgängeralbum: Das Titelstück oder die Single "Der letzte große Wal" wecken Erinnerungen an die Impulsstärke der guten alten Hamburger Schule. Dass der Sound lebendiger und die Arrangements abwechslungs- reicher klingen als zuvor, liegt teils an einer bewussten Entscheidung, teils wohl auch an einer Umbesetzung innerhalb der Band. Dass aber auch die Melodien so geglückt wie nie sind, kann nur den Umständen geschuldet sein: Tomte haben derzeit einfach einen Lauf. Voran, voran steht als Motto über einer Platte, die gut die bislang beste von Tomte sein könnte.
(Grand Hotel van Cleef/EMI)

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Tomte

Coverfoto: Grand Hotel van Cleef

The Precious Mings: "Every Time I Sell A Record A Kitten Dies"
Wer daheim noch Platten der Chrysanthemums / Deep Freeze Mice / Ruth's Refrigerator stehen hat, wird hier ein heftiges Déjà-vu erleben: Vorne ein Scherenschnitt-Cover mit niedlichen Tieren, hinten Songtitel, die auf eher selten besungene Themen hindeuten, etwa "Plankton", "Why Fish R Gr8", "Something Is A Foot"(??) oder ... oh: "Greensleeves". Kurz vorgeswitcht: ist tatsächlich der altenglische Schmachtfetzen, und wie gehabt höchst bearbeitungsresistent. - Hinter "The Precious Mings" steckt Chikinki-Keyboarder Boris Exton, der wie die oben genannten Vorläufer seine exzentrischen 3-Minuten-Stücke aus 60ies-gepräger Sorgfalt im Songaufbau, punkiger Do-it-Yourself-Haltung und einem breiten Repertoire an Sound-Kinkerlitzchen zusammen bastelt. Pop mit Flausen, ganz wunderbar!

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MySpace-Seite von The Precious Mings

Coverfoto: Weekender

Bang Gang: "Ghosts From The Past"
Als "Lady & Bird" hat der frankophile Isländer Bardi Johannsson gemeinsam mit der Chansonsängerin Keren Ann die Ästhetisierung der Todessehnsucht vervollkommnet und mit "Suicide Is Painless" das folgerichtigste Cover des Jahres 2003 herausgegeben. Ähnlich im Ton scheint es bei Bardis Hauptband weiterzugehen, doch trotz anfänglichem the world is gray, you're all alone schimmern hier immer wieder unerwartete Momente der Hoffnung durch. Nochmals unterstrichen dadurch, dass sich Bardi eine für ihn neue Form des Gitarrenspiels angeeignet hat und sich mit Raverock-Stücken wie "I Know You Sleep" und "Black Parade" endlich aus der Umklammerung der Brian Wilson-Vergleiche löst. Die virtuelle B-Seite der CD fällt dann wieder etwas ruhiger aus, beteiligt daran neben Keren Ann auch Anthony Gonzalez von M83. Es lebe die Achse Island-Frankreich! (Discograph/Trost)

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Bang Gang

Coverfoto: Discograph

The Owl Service: "A Garland Of Song"
Erstaunlicherweise ist es gar kein ironischer Kommentar auf konkurrierende Musikgenres, wenn die britische Folk-Band soundmäßig in Renaissance-Gewänder schlüpft und I will not go to the rolling of the stones, to the dancing of the ball singt - der Text ist viel älter als allfällige zeitgenössische Anspielungen. Für "A Garland of Songs" hat die vier- bis siebenköpfige Formation um Steven Collins unter anderem Traditionals aus England und New England zusammen getragen und etwas modernisiert; immerhin hat Collins die Mythologie primär über TV-Serien und Hammer-Horrorfilme kennen gelernt und seine Band nach einem walisischen Fantasy-Roman benannt. Eine sehr schöne Platte - die so ganz nebenbei auch den Beweis antritt, dass sich Laute und Sitar durchaus vereinbaren lassen. (Southern Records)

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MySpace-Seite von The Owl Service

Coverfoto: Sthn/Soulfood

It's A Musical: "The Music Makes Me Sick"
Aus der Dynamik zwischen Mann und Frau holen sich die Schwedin Ella Blixt und der Thüringer Robert Kretzschmar Themen für ihr gemeinsames Debüt. Da kann es dann schon mal darum gehen, wer von beiden mehr isst und trotzdem nicht der (bzw. die) Dickere ist - oder sie konstatiert beiläufig, dass er nicht mehr so viele Haare auf dem Kopf hat wie noch vor 10 Jahren ... die Sorte Tabuthemen mithin, die als letztes ins Wortgefecht geworfen wird, bevor der Notarzt kommen muss. Doch alles super luftig locker leicht verpackt - so streiten Glühwürmchen, und mit take off your t-shirt oder I want to eat you geht's auch schon wieder an die Versöhnung. Wer die Stars, Mates of State oder The Blow mag, wird auch an dieser Platte seine Freude haben. (Morr/Hoanzl)

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It's A Musical

Coverfoto: Morr

Nik Freitas: "Sun Down"
Ein Album für alle Fans von Josh Rouse, Harry Nilsson & Co: Der Kalifornier Nik Freitas ist nicht nur Mitglied von Conor Obersts Mystic Valley Band, sondern veröffentlicht auch bzw. vor allem Solo-Platten, und zwar schon seit 2002. "Solo" ist dabei wörtlich zu nehmen, denn wer da die Gitarre zupft, singt, pfeift, mit dem Reisigbesen übers Schlagzeug und den Fingerspitzen übers Klavier streichelt, ist stets Nik selbst. Mit Reminiszenzen an die verwehte Songwriter-Ära zwischen Lennon/McCartney und Carole King ist auch heuer wieder ein nicht gerade revolutionäres, aber warmes und freundliches Album herausgekommen, in dem keiner Katzen auf die Schwänze tritt oder Kinder in Pfützen schubst. (Affairs of the Heart/Hoanzl)

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Nik Freitas

Coverfoto: Affairs of the Heart

Michael von der Heide: "Freie Sicht"
Neues vom Prinzen des schwulen Schweizer Chansons: Außerhalb der Heimat war Michael von der Heide in den vergangenen Jahren nicht mehr so präsent wie in der Phase zwischen Karrierebeginn Ende der 90er und dem 2002er "Kriminaltango"-Duett mit Nina Hagen (das nenne ich mal einen Höhepunkt!). Doch jetzt kehrt er auf den grenzüberschreitenden Markt zurück - mit einem Album, das auf Hochdeutsch statt Schwyzerdütsch setzt und an dem sich unter anderem NDW-Monument Annette Humpe (derzeit vor allem mit Ich & Ich aktiv) beteiligt hat: So sanft hat man die vormalige Ideal-Frontfrau noch selten gehört. (Edel)

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Michael von der Heide

Coverfoto: Edel Records

HK 119: "Fast, Cheap And Out Of Control"
Für Science Fiction in der Musik war 2008 bislang ein gutes Jahr - und wo die B-52's ihr hedonistisches Utopia in ultraviolettem Lurex ausleben, setzt die aus Finnland stammende Heidi Kilpelainen ihren dystopischen Entwurf vom Überwachungsstaat dagegen: trashig und trés chic zugleich. Und weil das schon in aller Einzelheit besprochen wurde (hier der Link), kann ich mich geistig schon mal auf die Rolle rückwärts vorbereiten - denn in den Playlists des nächsten Monats wird es unter anderem um die musikalische Vergangenheit einer "Traumschiff"- und "Schwarzwaldklinik"-Darstellerin gehen. Na wenn das nichts ist! (One Little Indian/Hoanzl)

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HK 119

Coverfoto: One Little Indian