Müller-Funk: Würdigung eines "Großbürgers".

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Das Bemerkenswerte an meinen Rückblenden ist, dass sich im Falle Schmidt-Denglers kein prägnantes Erinnerungsdatum bei mir einstellen will, keine Reminiszenz an eine spektakuläre Erstbegebenheit. Dieser Anfang ist buchstäblich unter den alltäglichen Begegnungen begraben, den Gesprächen in seinem Zimmer oder in kleinen Uni-nahen Beisln, den Institutssitzungen und den Projektbesprechungen seit Mitte der 1990er-Jahre, als ich von außen, akademisch von München und Klagenfurt kommend, zum Institut stieß. Zuvor waren Name und Person für mich in die Aura des Prominenten gehüllt. Es war, glaub' ich, ein Symposion in Wien Ende der 1980er-Jahre, bei dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind.

Wenn ich in den letzten Tagen von der Uni aus meine Wege gegangen bin, zum Ring, zum Jonas-Reindl oder zur Reichsratsstraße, dann höre ich seine unverwechselbare und unüberhörbare Stimme. Sie war - und das ist eben keine Selbstverständlichkeit, sondern hat mit einer gut österreichischen Tradition zu tun - zum Sprechen geboren, von Untertönen und einer sehr verschmitzten Ironie grundiert und begleitet. Einmal erklärte er mir, dass er sich immer gefragt habe, was denn an der Ironie der deutschen Romantiker wirklich ironisch sei. Die Lust am Parlando machte seine Stärke beim Vortragen aus, etwa, wenn er im Rahmen der Ringvorlesung des Initiativkollegs Kulturen der Differenz ohne Aufzeichnungen (die er irgendwo liegen gelassen hatte) eine Stunde über Dimitré Dinev sprach oder sich konzentriert mit Gerhard Roth über dessen OEuvre unterhielt oder aber im Burgtheater mit einer unverwechselbaren Mischung aus Begeisterung und Bedacht über Christoph Ransmayrs Fliegenden Berg ausholte.

Wendelin Schmidt-Dengler war - auch das ist keine triviale Aussage - ein Mensch aus gut- und großbürgerlichem Hause. Großbürger sind heutzutage, in einer Welt der kleinen Leute en masse, verhaltensauffällig. Ein Großbürger unterscheidet sich vom Kleinbürger nicht zuletzt durch sein Verhältnis zum Ressentiment. Der kleine Mann bedarf der großen Vorurteile, um wenigstens für einen kurzen Augenblick das Glück des eigenen Übermaßes zu genießen, der Großbürger kann es sich leisten, nicht herablassend zu agieren. Das Ressentiment ist nicht sein Lebenselixier. So war Schmidt-Dengler, seinem ganzen Duktus nach, kein Anhänger großer Abstraktionen und theoretischer Gedankenspiele, blieb aber für die theoretischen Aspirationen seiner Schüler/innen offen. Noch in einem seiner letzten Texte, einem Essay über das Lesen (im Standard) hat er es nicht verabsäumt, sich die Frage zu stellen, ob die Leistung prononcierter neuerer Theorien nicht darin bestünde, die Aufmerksamkeit für die Literatur wachzuhalten. Von vielen traditionellen Philologen unterschied ihn ein Respekt vor dieser, der nicht mit Weihrauch-Schwenken gleichzusetzen ist. Er gehörte zu jener ganz raren Sorte von Literaturkritikern, die von der poetischen Spezies, wahren Idiosynkratikern, geliebt wird. Das ist unglaublich selten.

Ein Großbürger ist aber auch ein solcher, weil er eine große Familie hat, für die er sich - ein Pflichtmensch - verantwortlich fühlt. Diese Großbürgerlichkeit aus einer versunkenen Welt ist mir bei meinem akademischen Gastaufenthalt in seiner Geburtsstadt Zagreb im Jahre 2007 bewusst geworden, von wo aus ich ihm telefonisch zu seinem 65. Geburtstag gratuliert habe. Ich vermute, es waren die historischen Stadtkulissen und die Linienführungen der Umgebung, die diese Assoziationen ausgelöst haben. Ich weiß nicht allzu viel über seine Familie außer ein paar Anekdoten und Anmerkungen, aber wage die These, dass es gewisse soziokulturelle Ähnlichkeiten, Spiegelungen und Wahlverwandtschaften mit der Doderer'schen Familienroman-Welt gibt, die er in- und auswendig kannte. Symptomatisch fand er übrigens die Renaissance des Familienromans nach 1989, in Österreich wie in den Nachbarländern.

Wissen Sie, sagte er mir einmal offenherzig, leicht verlegen, ich bin ein Patriarch, der sich für seine Leute einsetzt. Schmidt-Dengler hatte eine große Familie, voran die eigene, dann seine Schülerschaft und schließlich die Autorenfamilie. Sie ist vielleicht seine eigentliche Hinterlassenschaft, der Schatten, den seine Person posthum wirft. (Wolfgang Müller-Funk, DER STANDARD/Printausgabe, 20./21.09.2008)