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Er wird sich wohl nie an den Rummel gewöhnen. Die Band jammt, das Publikum pascht, doch Alexander Van der Bellen schaut gar nicht glücklich drein. Halbherzig wippt er ein paar Takte mit, er weiß nicht recht, wohin mit den Händen. Als die Fotografen losblitzen, ringt er sich ein Lächeln ab. Es sieht aus wie ein unterdrückter Seufzer.

Ein Star, der sogar inmitten jubelnder Fans beim Wahlkampfauftakt spröde wirkt: Was jedem PR-Berater die Haare zu Berge stehen lässt, versuchen die Grünen zu kultivieren. Sie wollen zeigen: Dieser Van der Bellen ist anders als die anderen. Kein hemmungsloser Populist wie Strache, keine rhetorische Gummiwand wie Molterer, kein ironiefreier Kampflächler wie Faymann. "Er ist kein meinungsgeforschtes Hochglanzprodukt", sagt die Schriftstellerin Eva Rossmann aus Van der Bellens Promi-Komitee. Die Grünen orgeln den Satz im Wahlkampf rauf und runter.
Doch wie viel ist Mythos, wie viel echt? Kann sich einer wie Van der Bellen, seit 14 Jahren in der Politik, den Gesetzmäßigkeiten derselben widersetzen? Allzu normal sei die Partei geworden, heißt es immer öfter, angepasst und bequem. Auch Grüne sagen das, und sie meinen damit - früher ein Tabu - auch ihren Chef. Dessen Anhänger halten entgegen: Ohne Van der Bellen wäre ein Drittel der Wähler weg. Auf einen Schlag.

Der 64-jährige hat die Kritik ernst genommen. Er tritt jetzt kämpferischer auf, mit mehr Leidenschaft. Auf den Plakaten nennt er sich schnittig VdB, in den TV-Diskussionen unterdrückt er den Wirtschaftsprofessor in ihm. Van der Bellen ist nicht mehr der geduldige Zuhörer von früher, er lässt sich nicht auf falsche Fährten locken, verstrickt sich weniger in Details. Angriffe pariert er mit einem knappen "Quatsch" oder einem flapsigen "Was Sie nicht sagen!". Irgendwann, gegen Ende des Sendung, sagt er dann: "Jetzt reichts aber!" Man kann schon fast die Uhr danach stellen.

Keine leichte Kost

Beim Wahlkampfstopp in St. Pölten hat Van der Bellen derartige Manöver nicht nötig. Feinde sind am viel zu großen Hauptplatz keine auszumachen, aber auch nicht allzu viele Freunde. Die interessierten Passanten beäugen den prominenten Mann mit Respektabstand, er ist keiner, der die Leute wie selbstverständlich anzieht. Vor allem junge Sympathisanten trauen sich schließlich heran und lassen mit ihren Digitalkameras gemeinsame Fotos schießen.

Leichte Kost serviert Van der Bellen seinem Publikum nicht. Er schmettert keine Brandrede vom Pult aus in die Menge, sondern spaziert wie ein Conferencier auf der überdimensionierten Bühne herum. Bis zum Toleranzpatent von 1781, das Protestanten die freie Religionsausübung erlaubte, holt der Grüne aus, um hier, im katholischen Kernland Niederösterreich, ein Wort für Moscheen und Minarette einzulegen. Viel spricht er über den FPÖ-Konkurrenten, Heinz-Christian Strache, der "die ängstlichen Männer" vertrete. Schließlich hält Van der Bellen noch ein kurzes Plädoyer für modernere Schulen, für die Provinz, aber gegen Provinzialismus, ehe er sagt: "Ich hör eh schon damit auf."

"Es geht diesmal um sehr viel", sagt Van der Bellen nach dem Auftritt. Nicht nur deshalb, weil - wie er warnt - ein Vizekanzler Strache oder ein Dacapo der großen Koalition drohe. Van der Bellen weiß, dass es wohl seine letzte Chance ist, die Grünen in eine Regierung zu führen, Vizekanzler zu werden. Klappt es diesmal wieder nicht, wird er der Politik auf kurz oder lang den Rücken kehren.
Für sein Andenken im kollektiven Gedächtnis wäre ein Scheitern freilich kein Malheur, scherzt er: Noch könne ihm keiner vorhalten, er hätte viel versprochen und nichts gehalten. "Wenn ich jetzt auf der Stelle tot umfalle", sagt Van der Bellen, "bekomme ich wenigstens noch einen schönen Nachruf." (Gerald John, DER STANDARD, Printausgabe, 20./21.9.2008)