Model Liu Wei auf dem Pekinger Laufsteg.

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Liu Wei, der als Kind beide Arme verlor, kam sich als Model für Freizeitkleidung ungewohnt vor. Der 21-jährige Pekinger gehörte zum Team von 40 Behinderten, die im Xiangyun-Theater auf dem Pekinger Olympiagelände modische Anzüge und legere Alltagskleidung für behinderte Mitmenschen vorführten. Die Modenschau hatte eine Designergruppe des Pekinger Instituts für Kleidung entworfen. Ihre Models hatten sie bei Behindertenschulen und Vereinen angeworben. Im Publikum saßen Teilnehmer der Paralympics. "Ich habe mich auf dem Laufsteg selbstbewusst gezeigt" sagte Liu Wei. "Warum sollen sich Behinderte nicht auch modisch kleiden dürfen?"

Es war die erste derartige Modenschau in China, berichtete stolz die Neue Hauptstadtzeitung. Zehn Tage lang hatte das chinesische Fernsehen täglich die Paralympics live übertragen. Die Sendungen wurden nicht nur zu Lehrstücken der "Aufklärung, was Behinderte alles können" fanden lokale Zeitungen, sondern zu "spannenden Sportwettkämpfen, die uns Spaß machten und uns rührten". Das schlug sich in den Stadien nieder, die am Ende bei fast jedem Wettkampf ausverkauft waren. Die Behindertenspiele beeindruckten die Nation offenbar stärker und nachhaltiger als die pompös inszenierten und vor allem dem Staatsimage dienenden Olympischen Spiele. Das lässt sich auch aus einer landesweiten Umfrage unter 8677 Bürgern herauslesen, die die Jugendzeitung veröffentlichte. 89,1 Prozent der Chinesen sahen sich im Fernsehen die Eröffnungsfeier der Paralympics an. 95,8 Prozent fühlten sich gerührt. Und 96,5 Prozent räumten ein, sie hätten dazu gelernt. Behinderte hätten ein Recht darauf, genauso wie andere Mitmenschen behandelt zu werden.

"2008 ist in China zum Jahr der Behinderten geworden" sagt der Leiter des Instituts für Arbeits-und Personalrecht an der Pekinger Universität Renda, Zheng Gongcheng. Er nennt die Spiele den "krönenden Höhepunkt" einer im Frühjahr von Peking in drei Schritten gegangenen neuen Behindertenpolitik. Im März hatte sich erstmals seit 1949 das Zentralkomitee mit dem sozialen Status der 83 Millionen Behinderten befasst. Die Forderung des Politbüros, alle Behinderten und ihre 200 Millionen Familienmitglieder gleichberechtigt anzuerkennen, "war ein Signal auch an alle lokalen Regierungen, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen." Mitte April verabschiedete das Parlament ein novelliertes Behindertengesetz. Im Juni trat China als einer der ersten Staaten der neuen UN-Konvention für Behinderte bei. "Ohne Paralympics hätte dieser weitgehende Wandel nicht so schnell stattfinden können."

Der 44-jährige Zheng, der im Präsidium des Volkskongresses sitzt, gilt als Chinas "Sozialpapst". Er wurde zum Vorsitzenden einer von Premier Wen Jiabao und dem Staatsrat eingesetzten Beratergruppe zur Entwicklung von Sozialrechtssystemen ernannt. Er ist auch Leiter des im Juni gegründeten ersten chinesischen Forschungsinstituts für Behindertenpolitik. "Wir haben die Behindertenfrage wissenschaftlich, rechtlich und politisch auf die Tagesordnung gesetzt." Jetzt sei es Zeit, für sie ein Sozialnetz zu knüpfen. Dies sei in einem Entwicklungsland wie China "allerdings nichts, was über Nacht geschehen kann." Zheng erklärt, dass Behinderte bisher nur als Randgruppe galten, die Anspruch auf Almosen hatten statt auf einen Arbeitsplatz und soziale Absicherung. Zudem legten die Behörden ihre Definition, wer als Behinderter gilt, eng aus. Nach europäischen Kriterien würde China weit mehr als 130 Millionen Behinderte zählen.

Leistungsträger

Laut Zheng soll Chinas Sozialnetz in drei Etappen aufgebaut werden. Im ersten Zeitabschnitt bis 2012 gehe es darum, Garantien für elementare Systeme der Pensions- und Krankenversicherungen zu schaffen. Bis 2020 soll das Sozialnetz umfassend geknüpft und bis 2040 sollen die Grundlagen für ein Wohlfahrtssystem und für gleiche Lebensverhältnisse in Stadt und Land geschaffen werden können.

Der Sozialforscher, der sich an den Modellen großer Industriestaaten orientiert, warnt, die gravierenden Ungleichheiten zu verkennen. "Unsere Entwicklungsprobleme sind gewaltig." Seit 2003 habe sich Pekings Politik zum Ziel gesetzt, die Gerechtigkeitslücken zu verringern. Nach 30 Jahren Reformen "mussten wir eine Wende einleiten und uns verstärkt um die Schwachen kümmern. Wir können aber bisher nur für sozialen Ausgleich auf niedrigstem Niveau sorgen" räumt Zheng ein.

Dank der Paralympics erfahren Chinas Behinderte unter allen sozial schwachen Gruppen die stärkste gesellschaftliche Anerkennung. Zheng hält das für gerechtfertigt. Die Spiele haben die Aufmerksamkeit auf die Behindertenfrage gelenkt. Das hätten noch so gute Gesetze allein nicht schaffen können. Auch habe sich die Sicht der Gesellschaft verändert. Behinderte seien keine Belastung. Sie könnten Leistungssportler und Leistungsträger sein, "wenn sie die Chance dazu erhalten." (Johnny Erling aus Peking, DER STANDARD, Printausgabe, Donnerstag, 18. September 2008)