"Die Nachrichten von meinem Ableben sind etwas übertrieben" - könnte die Zweite Republik sagen, wenn sie sich so äußern könnte. Kein Zweifel, das politische System Österreichs ist schwer deroutiert. Die beiden "staatstragenden" "Groß"-Parteien SPÖ und ÖVP sind solche nur noch mit Anführungszeichen und kein Mensch weiß, wie nach der Wahl am 28.September ordentlich regiert werden soll. Wieder eine "große" Koalition (stöhn). Rot-Blau-Orange-Krone (würg). Schwarz-Blau-Orange (würg). Rot-Grün-LIF, Schwarz-Grün-LIF? (Weiterträumen).

Das politische Personal ist erschöpft, über weite Strecken medioker, Vertrauen untereinander, das für Koalitionen notwendig wäre, ist Mangelware. Populismus läuft Amok, die wirklichen Themen bleiben undiskutiert und unbehandelt.

In dieser Situation treten die Verfechter eines Mehrheitswahlrechts auf den Plan. Endlich wären klare Mehrheiten möglich, es könnte einmal diese Partei regieren, dann wieder eine andere. Mühsame Koalitionen und vor allem die als widernatürlich angesehene Große Koalition wären nicht mehr notwendig.

Die Vertreter des Mehrheitswahlrechtes kommen überwiegend aus dem konservativen Lager. Sie haben auch eine "hidden Agenda". Österreichs Wählerschaft hat, unabhängig von der Parteipräferenz, eine rechte Mehrheit. Die Mehrheitswahlrechtler hoffen, dass ÖVP-, FPÖ- , BZÖ- und rechte Wähler der Sozialdemokratie einer rechts ausgerichteten Regierung eine dauerhafte Mehrheit verschaffen, egal welche Parteizugehörigkeit der Kanzler hat.

Die Debatte um das Mehrheitswahlrecht versucht einen zentralen Defekt der österreichischen Wählersystems zu ignorieren und/oder zu umgehen: bis zu 27 Prozent sind bereit, eine extrem rechte Partei zu wählen. So viele wie nirgendwo anders in Europa. Sie sind auch bereit, eine Partei zu wählen, deren Chef mehrfach das NS-System gelobt hat (Haider) oder der selbst in einer "Wehrsport"-Gruppe tätig war (Strache). Das Problem des österreichischen politischen Systems sind diese Wähler, nicht das Wahlrecht.

Die Misere ist, dass eine Partei oder jetzt zwei Parteien, die aus ihrer Natur heraus nicht regierungsfähig sind, so stark werden; und dass trotzdem immer wieder in einer Art von naivem Zynismus versucht wird, mit ihnen zu regieren (wie einst Sinowatz und Schüssel, jetzt vielleicht Faymann). Die Verfilzung und Verhaberung der "staatstragenden" Parteien hat natürlich die extrem rechten Parteien gefördert. Um zu dieser Erkenntnis zu kommen, muss man nicht ganze Bücher schreiben. Ein relativ exponierter Kleinstaat mit einer sensationellen Erfolgsstory (und einer sehr egalitären Einkommensverteilung) wie Österreich konnte - und kann - in Wirklichkeit nicht ohne politischen Konsens, ohne irgendeine Art Sozialpartnerschaft, so erfolgreich sein. Diese Grundstruktur des Kompromisses ist, das sei zugegeben, in den letzten Jahren beschädigt und diskreditiert worden. Aber wenn sie ganz wegfällt, kommt nicht der reine Reformsturm edler Geister, sondern zuerst der Kampf untereinander bis aufs Messer und dann die autoritäre Herrschaft. (Hans Rauscher, DER STANDARD-Printausgabe, 16. September 2008)