Religion ist in feministischen Zusammenhängen ein häufig diskutiertes Thema. Abtreibung, Verhütung oder Strukturen, die Frauen innerhalb von Glaubensgemeinschaften für bestimmte Positionen nicht zulassen, berühren unter anderem laufend frauenpolitisches Terrain. Großen Stellenwert in der feministischen Debatte haben mittlerweile auch Praktiken des Islams, die oftmals mit einem "rückständigen" Frauenbild in Verbindung gebracht werden.

Die beiden Wissenschaftlerinnen Bettina Mathes und Christina von Braun beschäftigten sich in ihrem Buch "Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen" - ausgezeichnet zum besten Wissenschaftsbuch 2008 - mit der Geschlechterordnung und deren Auswirkungen im Christentum, Judentum und dem Islam.

Der historische, kulturwissenschaftliche und auch politische Blick, den der Buchtitel vorerst nur auf den Islam ankündigt, wird auf das Christentum und das Judentum ausgeweitet, um zeigen zu können, "wie sich Annahmen der einen Seite mit denen der anderen verbinden oder zur gegenseitigen Abgrenzung führen", so schreiben die Autorinnen in der Einleitung. "Es ist eine Frage ethischer und moralischer Redlichkeit, die Bedeutungen der Geschlechterordnung der eigenen Kultur zu kennen, bevor man über die andere Kultur oder Religion urteilt", so die Autorin Bettina Mathes im Gespräch mit dieStandard.at.

Aufgeheizte Debatten

Die emotionalisierten, aufgeheizten Debatten um die Integration von MuslimInnen, die die Autorinnen vor allem in Deutschland beobachten, müssten dringend um sachliche Dimensionen erweitert werden, schreiben Mathes und Braun.
Nach der Lektüre des Buches "Verschleierte Wirklichkeit" sollte dies kein Problem sein. Braun und Mathes bearbeiteten sehr detailliert Themen wie die Einflussnahme der Religionen auf die jeweiligen Konstruktionen der Geschlechterordnungen oder die psychoanalytischen Aspekte, die den Diskurs ebenso mitformen. Sie betonen dabei immer wieder besonders den abendländischen Blick auf den Orient, ein Blick, der das eigene Verborgene oder Verdrängte auf den Orient als "das Andere" projiziert. "Die Selbstbefragung ist ein schwieriger Prozess. Obwohl wir es nicht gerne zugeben, spüren wir sehr genau, dass die im Grundgesetz verbürgte gesetzliche Gleichheit von Mann und Frau noch lange nicht eingelöst ist. Aber wir können es nicht zugeben, weil die symbolische Basis unserer Gesellschaft auf dem Glauben an die Emanzipation der Frau beruht, die wir am Grad ihrer Entblößung messen. Da ist es bequemer, meine Frustrationen über den Emanzipationsprozess an der Muslima abzuladen. Gleichzeitig fühle ich mich als westliche Frau damit automatisch der angeblich so rückständigen islamischen Kultur überlegen. Es ist also überhaupt nicht einfach, mir über die eigenen Unterdrückungsmechanismen Rechenschaft abzulegen. Es ist aber notwendig, damit ich lerne, zwischen dem Bild, das ich mir vom Islam mache, und den muslimischen Frauen und Männern, mit denen ich spreche, zu unterscheiden", erklärt Mathes.

Konkrete Beispiele für diese Überlegenheit sind im Buch die Ausführungen von Braun und Mathes über westliche Forscherinnen, die sich oftmals selbst in die patriarchale Position eines "universellen Subjektes" versetzen, um sich so ein Objekt zu konstruieren, das "das Andere", "das Fremde" ist - jene Position also, die ansonsten Männern vorbehalten ist.
"Wir plädieren in unserem Buch sehr deutlich dafür, sich von solchen patriarchalen Rastern zu verabschieden, unter anderem deshalb, weil es sich nicht für eine differenzierte interkulturelle Analyse eignet", meint Mathes.
Die "Verschleierung" - aber auch die von Mathes angesprochene westliche "Entblößung" - ist im Buch ein zentrales Thema. Allerdings geht es nicht nur um das Tragen des Kopftuches als eine Praktik, die Muslimas vorbehalten ist, die Autorinnen behandeln auch die Tradition der Verschleierung im Christentum oder die Verschleierung aus modischen Gründen, man denke nur an Stars wie Birgitte Bardot oder Grace Kelly.

Natürlich - Unnatürlich

Einen Grund, warum in westlichen Diskursen über den Orient Stereotypen eine große Rolle spielen, sehen die Autorinnen in den Vorstellungen, was "natürlich" ist und was "unnatürlich". Mathes und Braun erinnern an die "eigenen" kulturellen Kodierungen, wie etwa die "Entschleierung" im Westen, "wir müssen die eigenen Karten offen legen", so Mathes. "Bei der Entschleierung handelt es sich um einen Prozess, der in viele historische, kulturelle, religiöse und nationale Entwicklungen eingebunden ist. Am entblößten Frauenkörper zeigt der Westen sein Gesicht und zugleich eine kulturelle Norm. Auch die Verschleierung ist Teil eines Prozesses kulturellen Wandels. Eine aus dem Iran stammende Doktorandin hat mir erzählt, dass dort die Regierung Maßnahmen plane, die 'Übermacht' der Frauen an den Universitäten zu unterbinden. Im Iran nehmen mehr Frauen als Männer ein Universitätsstudium auf - das Verhältnis liegt bei 60 Prozent / 40 Prozent - und dies soll nun mit einer Männerquote korrigiert werden. Ich führe das Beispiel deshalb an, weil es zeigt, dass die Verschleierung nicht als Maßstab für den Grad der Emanzipation in einer Gesellschaft taugt. Das heißt nicht, dass ich den Zwang zur Verschleierung befürworte, aber wir sollten uns davor hüten, die Verschleierung mit Stagnation gleichzusetzen", meint Mathes.

Westliche Unterwerfungsgesten

Auf die Frage, ob in westlichen Unterwerfungsgesten, wie etwa den gängigen Schönheitsidealen, letztlich nicht doch mehr Spielraum liegt als bei religiösen Vorschriften, entgegnet Mathes: "Westliche Frauen sind einem rigiden Körperregiment unterworfen, dem die einzelne Frau sich nur schwer, und wenn überhaupt, nur unter der Preisgabe ihrer 'Weiblichkeit', entziehen kann. Um ein Beispiel zu geben: Ich lebe seit einigen Jahren in den USA. Dort ist es inzwischen vollkommen normal, dass junge Frauen, bevor sie aufs College gehen, ihre Nase oder Brüste 'richten' lassen. Und das ist erst der Anfang eines lebenslangen Prozesses von schmerzhaften 'Schönheitsoperationen', die den Frauenkörper einem Idealbild von Weiblichkeit anverwandeln. Daneben treten Fitness, Frisur, Kleidung, Körperhaltung. Wir betrachten das als Ausdruck von Freiheit. Aber wenn man sich die operierten Gesichter und 'optimierten' Körper anschaut, dann stellt man fest, dass sie sehr viel an Individualität verloren haben. Wie stichhaltig ist also das Argument, der Schleier nehme der Muslima ihre Individualität und sei deshalb als frauenfeindlich zu betrachten?"

Kritik?

Beim Lesen stellt sich einer angesichts dieser umfangreichen Analysen die Frage, wie Kritik an religiösen Praktiken aussehen könnte, oder ob eine solche Kritik überhaupt geübt werden darf? "Aber natürlich. Das ist es ja gerade, wozu wir mit unserem Buch beitragen wollen. Aber zur Kritik gehört Wissen - über sich selbst und über den anderen. Ich kann nur was kritisieren, was ich verstanden habe", so Mathes, "im Übrigen ist der Islam feministischer Kritik durchaus zugänglich. In vielen islamischen Ländern gibt es sehr differenziert argumentierende Frauen, die eine feministische Re-Interpretation des Koran und der religiösen Gesetze vorgelegt haben, wie Fatima Mernissi, Leila Ahmed, Valentine Moghadam, Nilüfer Göle, die wir in unserem Buch zitiert haben. Daneben gibt es eine große Zahl von Wissenschaftlerinnen, die sich um eine feministische Reform der Gesellschaft bemühen, von denen wir hier im Westen noch nie etwas gehört haben. Wir sollten den Austausch mit ihnen stärken, um von ihnen zu lernen und sie an unseren Diskussionen teilhaben zu lassen."

(Beate Hausbichler, dieStandard.at, 10.9.2008)