"Sein Fach 'Literatur' war ihm nicht mehr Gegenstand, sondern Lebensinhalt ..." - Wendelin Schmidt-Dengler (1942-2008)

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(Friederike Mayröcker)

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Wendelin Schmidt-Dengler, porträtiert von Oliver Schopf anlässlich der Ernennung von "wsd" zum Wissenschaftler des Jahres 2007.

in loyaler Freund und Förderer der österreichischen Sprachkunst. ein Früherkenner von literarischen Tendenzen und autoriellen Ambitionen. Ein funkensprühender Herold des Vortrags, der Diskussion, der Analyse. Ein hochprofessioneller Datensammler und -verwerter. Ein innovativer Manager, Netzwerker, Infrastrukturalist. Ein Wanderer zwischen den Welten ...

Wendelin Schmidt-Dengler - der Gelehrte, der Lehrer, der Entertainer, der Liebhaber, der Herzensgebildete - war, ist und bleibt – mit einer Ausnahmslosigkeit ohnegleichen – in buchstäblich allen Bereichen des "literarischen Lebens" zu Hause. Seinen zahllosen Geschichten, Spuren und Anregungen zu folgen bedeutet immer auch: neue Horizonte zu sehen, neue Horizonte zu überschreiten. Am Beispiel der sfd:

Frühjahr 2007: "wsd"- so hat er sich im E-Mail-Verkehr manchmal selbst genannt – erwähnt in einem Nebensatz, dass er – der sich für die im sfd-Archiv lagernden Materialien interessiert – mehr "über Herrn Falco und sein Verhältnis zu gewissen Techniken der literarischen Avantgarde" in Erfahrung bringen möchte. Aus dem Nebensatz wird ein Projekt. wsd aktiviert sein Netzwerk, vermittelt Kollegen und Kolleginnen und wird zum Wegbereiter des ersten wissenschaftlichen Falco-Symposions, das schließlich im Februar dieses Jahres in Wien abgehalten wird.

Herbst 2007: wsd sagt: Institutionen, die mit der Archivierung von Materialen der Sprachkunst beschäftigt sind, müssten in Zukunft zweierlei Grenzen überschreiten: unter Beibehaltung der Schrift die Schrift und unter Beibehaltung der deutschen Sprache die deutsche Sprache. Es sei notwendig, sagt er, über die Bewertung von Audio-, Video- und Internetdokumenten neu nachzudenken und entsprechende Lösungen zu finden. Er nimmt an Sondierungsgesprächen teil, vermittelt Kontakte, prüft Kostenvoranschläge und bietet der sfd seine Zusammenarbeit an - Arbeitstitel: "Rettung der verfallenden Magnetbanddokumente, Aufbereitung, Digitalisierung".

Frühjahr 1992: wsd ist einer der Ersten, die sich zum – damals noch verpönten – Thema "Lehr- und Lernbarkeit von Literatur" äußern. In einem wütend-witzig-brillanten Vortrag fordert er die Einrichtung einer Schule für Dichtung, für die er immer auch eine universitäre Perspektive gesehen hat. Eine "Poetik ohne Didaktik" sollte entwickelt, die "differentia specifica" des Dichterberufs sollte erörtert werden ...

Die sfd, die Ihnen, Herr Universitätsprofessor Doktor Wendelin Schmidt-Dengler in einem erheblichen Ausmaß ihre Existenz, ihr Werden und ihre Zukunft verdankt, verneigt sich. (Christian Ide Hintze, Leiter der Schule für Dichtung)

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... und die Erinnerung an ein letztes Bild

Der kleine blonde Junge war mir an der U-Bahn-Station aufgefallen. Er ging, sich angeregt unterhaltend, Hand in Hand mit einem älteren, kurzärmeligen Herrn, und die Verbundenheit der beiden rührte mich. Hinter ihnen fuhr ich die Rolltreppe hoch, und erst kurz vorm Ausgang fiel mein Blick auf den ihn zu einem Sonntagvormittagsspaziergang ausführenden Großvater und erkannte an den Umrissen seines Rückens, dass es er war. Der bekannte Germanist, mein Doktorvater, den ich tags zuvor wegen einer Empfehlung aufgesucht und den ich zwar als körperlich angeschlagen, ansonsten jedoch aktiv und mehrfach beschäftigt, wie immer wahrgenommen hatte.

Trotz Sommerpause klingelte das Telefon während unseres Gesprächs, Symposium hier, Textbeitrag da, draußen hämmerten Bauarbeiter, ein typisches Schmid-Dengler-Treffen halt. Wie stets aber war er aufmerksam, konzentriert, bereit, Neues zu erfahren und vor allem: zu helfen. Als ich noch studierte, war er der einzige Professor, bei dem man mehr als eine Veranstaltung aushielt, der sich für mehr als das bloße Durchhalten seiner Vorlesung interessierte. Er war letztendlich verantwortlich dafür, dass ich dieses Studium fortführte und beendete.

Weil ich ständig zweifelte, weil ich meinte, mich zwischen einer theoretischen und einer praktischen Beschäftigung mit Literatur entscheiden zu müssen, schrieb ich extremistische Arbeiten, um den Professor zu testen. Und seine Toleranz war groß! Als ich ihm für meine Doktorarbeit ein Thema vorschlug, über das er kaum etwas wusste, wies er mich nicht etwa ab, sondern vertraute mir und war gespannt, von mir darüber zu erfahren. Damit hatte er mich gewonnen. Ein Professor, der seine Studenten nicht etwa dazu anhält, sich ihm anzugleichen, sondern der sein Spektrum ständig erweitern will! Das und vieles andere habe ich und haben meine damaligen Mitstudenten und viele Schriftsteller, die mit ihm zu tun hatten, ihm zu verdanken. Und ich bin froh, dass mein letztes Bild von Schmidt-Dengler, gelassen mit seinem Enkelsohn spazierend, ein ganz privates ist. Wo er einmal nicht der unablässige Arbeiter, der hilfreiche Mentor, der umtriebige Organisator und so weiter war, sondern ein Mensch mit Familie. (Sabine Scholl, Schriftstellerin, Berlin / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11.9.2008)

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Ein großer Freund, ein großer Geist

Ein schöner und interessanter Mensch für mich, als Mensch ganz besonders, sehr ernst zu nehmen, ein komplexer, komplizierter, feinsinniger, schlauer und sehr freundlicher Mensch, und weder in seiner Schlauheit noch in seiner Freundlichkeit je in Richtung Schwachstelle, sondern immer in Richtung Kaliber.

Mit meinen frühen Romanen konnte er nichts anfangen. Aber wenn wir uns zwischendurch sahen, kam er in seiner etwas stolpernden Art strahlend auf mich zu, auf seinen ehemaligen Studenten, er sagte zwei Sätze zum unzureichenden Text und ermunterte mich. So kam es, dass ich mich in seiner Gegenwart nie unwohl fühlte, obwohl er mir zwischendurch den Kopf wusch.

Negative Kritiken, die er schrieb, machten ihn im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen nicht befangen. Zum einen lag das daran, dass er Bücher, die ihm missfielen, nicht persönlich nahm, zum anderen, dass er die Kritik nicht persönlich meinte. Verrisse waren ihm nie Gehabe, sondern einfach nur, aus seiner Sicht, gerechtfertigt. So änderte sich sein Verhalten mir gegenüber auch nicht, als er anfing, meine Bücher zu loben.

Bei aller Sympathie für die Menschen hielt er immer eine Mindestdistanz zu den Autoren, damit eine offene und kritische Auseinandersetzung möglich blieb – und kritische Auseinandersetzung bedeutete für ihn Arbeit an der gemeinsamen Sache. Für die notorischen Verbrüderungen im Literaturbetrieb fehlte ihm bei aller Klugheit letztlich auch die Eitelkeit.

Ich bewunderte ihn immer aufrichtig, dass er so viel arbeiten und bewegen konnte, obwohl er nicht eitel war. (Arno Geiger)

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Die österreichische Literaturwissenschaft verliert mit Wendelin Schmidt-Dengler ihren prominentesten, international bekanntesten Vertreter. Diese Hiobsbotschaft hat mich niedergeschmettert. Ich verdanke Wendelin Schmidt-Dengler unermesslich viel.

Der schmerzliche Schock hat Erinnerungen aus der Tiefe der Jahre in mir aufsteigen lassen: an das akademische Jahr 1974-1975, als ich mich in Wien als Magister-Student aufhielt; damals hatte Wendelin Schmidt-Dengler meine Magisterarbeit über "Die Strudlhofstiege" mit der größten Freundlichkeit unterstützt, beraten, ermutigt, betreut; er hatte sogar die erste Niederschrift korrigiert (damals musste ich meine erste Arbeit auf Deutsch verfassen, und es gab auf jeder Seite haufenweise Sprachfehler).

Seitdem fühlte ich mich Wendelin Schmidt-Dengler zutiefst verbunden, und es war jedesmal eine glückliche Stunde und ein intellektuelles Erlebnis, als ich ihn in Paris, in Wien oder anderswo in der großen kleinen Welt der internationalen Germanistik wiedertraf. Sein österreichischer Kulturpatriotismus, der mit einer bewundernswerten kritischen Zivilcourage gepaart ist, hat mich immer sehr beeindruckt.

Alle Institutionen der literaturwissenschaftlichen Lehre und Forschung in Österreich verdanken ihm ungeheuer viel. Die ganze zeitgenössische österreichische Literatur, deren bester Kenner und Verteidiger er war, fand in ihm ihren besten Interpreten, Historiker und Vermittler, ihren eloquentesten Rezensenten, ihren qualifiziertesten Archivar in der Österreichischen Nationalbibliothek.

Ich kenne keine(n) Germanisten/in, ich kenne keine(n) Autor/in, der/die für Wendelin Schmidt-Dengler nicht den größten Respekt und die größte Sympathie gehabt hätte.

Ich möchte mit diesen allzu skizzenhaften und unzulänglichen Worten meine tiefe Bestürzung zum Ausdrucke bringen, ich möchte Wendelin Schmidt-Denglers Familie und Freundeskreis mein Beileid vom Herzen aussprechen. (Jacques Le Rider)

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Vor 15 Jahren hat Wendelin Schmidt-Dengler mein Leben verändert. Nach einer gemeinsamen Veranstaltung fuhren wir mit dem Zug von Udine nach Wien. Ich erzählte ihm, dass ich in den nächsten Monaten vorhabe, das erste Mal nach Indien zu fliegen, wusste nicht, ob ich nach Bombay oder Kalkutta gehen sollte. Er empfahl mir Varanasi, die heilige Stadt der Hindus. Seither war ich neunmal in Indien, siebenmal in Varanasi. Am 1. November hätte er die Laudatio für die Verleihung des Büchner-Preises in Darmstadt halten sollen. Es war der Wunsch der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, und es war mein Wunsch. (Josef Winkler)

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Wendelin Schmidt-Dengler war der Glücksfall eines Gelehrten: im klassischen Sinn humanistisch gebildet, fasziniert von Neuem, aufgeschlossen, engagiert. Humorvoll und hilfsbereit. Sein Fach "Literatur" war ihm nicht mehr Gegenstand, sondern Lebensinhalt, der weit mehr umfasste als das wissenschaftliche Interesse. Schmidt-Dengler war nicht nur ein begnadeter Lehrer und Vortragender, sondern auch ein Förderer der Literatur.

Wo immer er konnte, unterstützte er Institutionen, aber auch Menschen. Er prägte Generationen von jungen Wissenschaftern, Lehrern und Schriftstellern, er war nicht nur Kritiker, sondern vor allem auch Mentor, und er vertrat eine umfassende Idee von Bildung, die sich mit der wettbewerbsorientierten Manager-Universität unserer Tage schlecht vertrug. Nicht zuletzt aus Protest gegen diese Entwicklung hatte er sich nicht in den Senat wählen lassen, um – wenn auch vielleicht auf verlorenem Posten – für seine Vorstellung einer demokratisch organisierten Universität zu kämpfen. Wendelin Schmidt-Denlger war voller Pläne gewesen. Mit ihm, dem ich seit mehr als 30 Jahren verbunden war, verliere ich nicht nur einen wunderbaren Kollegen, mit ihm verliert die Universität einen ihrer hervorragendsten Vertreter. Sein Tod kam einfach viel zu früh. (Konrad Paul Liessmann / DER STANDARD/Printausgabe, 10.09.2008)