In der Kindheit lastete enormer Buchdruck auf mir und meinesgleichen. Auf unsere bittere Daseinskritik "Mir ist fad" folgte nämlich postwendend: "Dann lies ein Buch!" Lesen? Oh nein. Das war die letzte Tätigkeit vor der Untätigkeit. Allerdings war es auch die letzte Chance, so zu tun, als würde man etwas tun, bevor man etwas tun musste (aufräumen, Schuhe putzen). Wie beneidete ich meinen Bruder, der sich wochenlang in sieben Festmetern Karl May vergraben konnte. Ich: "Wie machst du das, dass dich das so in Spannung versetzt?" Er: "Lies einmal Winnetou I und II, dann kannst du nicht mehr aufhören." Ich wollte lieber aufhören können - und spielte Schallplatten. Es folgten "Lederstrumpf" (für Gewichtheber) und "Tom Sawyer". (Super! Ich meine die Verfilmung.) Bei den "Fünf Freunde"-Bänden schöpfte ich Hoffnung. Da waren die Zeilenabstände groß, und nach jedem Kapitel gab es leere Seiten, die einen dem Ende wieder ein Stück näherbrachten.

Erst nach Zweigs atemberaubender "Schachnovelle" wusste ich, welche Geschichten für mich bestimmt waren: die flott erzählten, jene, die zu einem Ende kamen, ehe ich es herbeisehnen konnte. Und wehe, es war dann so weit!
(Daniel Glattauer, Der Standard Print-Ausgabe, 6./7.9.2008)