Grübelnde Befragungen auch des klanglich (scheinbar?) Simplen: Claudio Abbado am Pult des luxuriösen Lucerne Festival Orchestra.

Foto: Lucerne Festival

Äußerlichkeiten waren ja noch nie sein Ding. Und es käme ihm daher wohl auch kaum je in den Sinn, an der Oberfläche nach der Tiefe zu suchen, wie es Hugo von Hofmannsthal einst nahelegte. Stattdessen ist die gesamte künstlerische Physiognomie von Claudio Abbado von einer beständigen und skrupulösen Auslotung des musikalischen Sinns bestimmt, den seine Interpretationen stets aus der Tiefe der Partitur beziehen.

Auch wenn sich dabei fast immer eine ans Wunderbare grenzende Erweiterung der Ausdrucksnuancen ergibt und Abbado einen Reichtum sinnlicher Eindrücke aufzufächern versteht, der seinesgleichen sucht, ist all dies handfesten Eigenschaften der gespielten Werke geschuldet. Diese in aller Schärfe zum Vorschein zu bringen bildet im Grunde das Geheimnis seiner großen Kunst; und auch der immer wieder ein wenig anders aufgeraute Ton stellt einen zentralen Teil seiner unmittelbar in Klang überführten Analysen dar.

Nirgendwo sonst als in der Struktur schürft dieser kaum genügend zu schätzende Dirigent also nach immer neuen Erkenntnissen; und er tut es auch dort, wo andere gar nicht auf die Idee kommen würden, überhaupt auf diese Art zu suchen. Mit seinem Lucerne Festival Orchestra befasste er sich nach einem französischen Konzertprogramm (Debussy, Ravel, Berlioz) in einem zweiten Projekt mit denkbar gegensätzlichen Stationen der russischen Musikgeschichte.

Bei Igor Strawinskys Feuervogel-Konzertsuite (Version 1919) konnte das Orchester, das im September für ein Gastspiel in den Wiener Musikverein kommt, seinem schon jetzt fast legendären Ruf alle Ehre machen. Luxuriös die riesig besetzten Streicher, mit denen Abbado nicht zuletzt das Visionäre der Partitur, etwa den geräuschhaften Flügelschlag des Vogels, demonstrierte; phänomenal das Blech, das sowohl gebündelt als auch in fantastischen Einzelleistungen in allen Farben glänzte.

Anspruch: Zeitgenossenschaft

Ob es an der viel gerühmten Akustik des Kultur- und Kongresszentrums Luzern (KKL) lag, dass dieselbe Instrumentengruppe bei Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Orchesterfantasie Der Sturm der Versuchung zu erliegen schien, lautstärkemäßig ein wenig über die Stränge zu schlagen?

Mag sein, dass dies nur vom weit hinten liegenden Presseplatz so wirkte, von dem aus sich die Klangbalance kaum beurteilen ließ und auch nicht, was daran auf das Orchester selbst, auf die Interpretation durch den Dirigenten oder aber schlichtweg auf die Gegebenheiten des Saales zurückging.

Auch beim zweiten Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow mussten diese Fragen offenbleiben. Klar wurde hingegen sehr wohl, dass Abbado in beiden Fällen mit einer Ernsthaftigkeit zu Werke ging, die er ansonsten etwa Mahler angedeihen lässt. Dass er aber auch bei Rachmaninows schlichter Melodik eine Mahler'sche Brüchigkeit evozierte, stellte wohl eine Überinterpretation dar und schien zuweilen ins Leere zu gehen. Umso mehr, als mit Hélène Grimaud eine etwas unverbindliche Klaviersolistin zugange war, die ihren Part zwar schön und gefällig gestaltete, aber nicht so recht auf manche ausgeklügelte Orchesterphrasierung zu reagieren wusste.

Gleichsam einen Wahlverwandten Abbados kann man in Maurizio Pollini sehen, einem Pianisten von unbedingter Seriosität. Seine Glaubwürdigkeit verdankt sich auch dem Einsatz, mit dem er für zeitgenössische Musik kämpft - auch wenn die von ihm protegierten Komponisten inzwischen teilweise gar nicht mehr unter den Lebenden sind. Aber so wie Nono oder Stockhausen wohl noch lange Zeitgenossenschaft beanspruchen können werden, gilt dies ohnehin für alle Kunst, wenn man sich ihr mit einem so unbedingten interpretatorischen Anspruch wie jenem Pollinis verschreibt.

Seine immer noch fulminante Virtuosität stellt er nämlich immer in den Dienst der Wahrhaftigkeit, die ihn gegenüber allem, was auch nur entfernt geschmäcklerisch wirken könnte, skeptisch wirken lässt. So scheint er vieles lieber zu straffen, als sich in Gefahr zu begeben, allzu gefühlsträchtige Blüten zu treiben.

Dies zeigte sich sowohl bei Liszts auf alle Bruchstellen hin untersuchter h-Moll-Sonate und dessen späten Klavierkompositionen, die Pollini mit Boulez, Berg und Stockhausen kombinierte, als auch bei einer Konzerthälfte mit Chopin, der er einen Nono-Block folgen ließ. Nach ... sofferte onde serene ... mit dem Pianisten am Flügel und vom Tonband wurde A floresta è jovem cheja de vida unter der Leitung von Beat Furrer gleichermaßen mit geballter Wucht und ätherischer Zartheit realisiert.

Das "Projetto Pollini", das damit hier diesmal Station machte, könnte indessen insgesamt für die Ausrichtung des Lucerne Festivals stehen, das die enge Verbindung von Tradition und Moderne, ähnlich jüngster Bestrebungen in Salzburg, in den letzten Jahren zu seinem Markenzeichen gemacht hat.

Vision: Musiktheater-Neubau

Inzwischen hat Intendant Michael Haefliger ein weiteres ambitioniertes Projekt in Planung: Zusätzlich zum am idyllischen Vierwaldstättersee gelegenen KKL als zentralem Konzertsaal ist an eine "Salle modulable" gedacht, die einen wandelbaren Raum für neue musiktheatralische Ansätze bieten soll. Doch noch ist das Zukunftsmusik: Der Zeithorizont dafür liegt etwa beim Jahr 2013. (Daniel Ender aus Luzern, DER STANDARD/Printausgabe, 26.08.2008)