Auf müde Kühe und verlassene Almhütten traf Martin Prinz ebenso wie auf die Infrastrukturen des Tourismus und des dörflichen Lebens.

Foto: Martin Prinz

Dass etwas fehlte, diesen Verdacht hatte ich zum ersten Mal auf dieser Reise im Val Calanca, einem bereits im achten Jahrhundert von San Bernardino und Mesocco aus besiedelten Tessiner Alpental. Doch vergaß ich es schnell wieder, genauer gesagt vertrank ich es nach einer vorzeitig abgebrochenen Etappe abends mit weißem Merlot. In Rossa, nur wenige Kilometer talauswärts, gemeinsam mit meinem besten Freund, der an diesem vorletzten Juliwochenende auf Besuch gekommen war, um mich von San Bernadino nach Biasca zu begleiten.

Es war am frühen Samstagnachmittag. An den Bergspitzen ballten sich bereits die ersten Wolkenhauben. Mit Gewittern war laut Wetterbericht aber erst am nächsten Nachmittag zu rechnen, und daran glaubten wir auch zu Recht, denn Gewitter sollten tatsächlich kein Problem sein bei unserem Versuch, eineinhalb Etappen an einem Tag zu schaffen, um Sonntagnachmittag noch vor dem Schlechtwetter in Biasca zu sein. Sondern der Weg selbst war das Problem, und etwas, das fehlte, nicht nur auf unserer Route, und nicht nur in den Alpen, vielmehr mitten im Heute.

Davon ahnten wir jedoch noch nichts, als wir nach der Überquerung des Passo Passit das Val Calanca erreichten und zuerst dachten, es wäre wieder einmal typisch für uns Tratschtanten, dass wir in Valbella die Abzweigung übersehen hatten. Denn als wir am Ortsende des kleinen Blockhütten-Weilers angelangt waren, hatten wir beide keine Spur des laut Karte mitten in der Ansiedlung wegführenden Wegs bemerkt. Finden mussten wir ihn aber, denn nur mit diesem, die eigentliche Route abkürzenden Steig, ließe sich unser noch zwei Pässe entferntes Etappenziel erreichen, die hoch über Biasca gelegene Capanna Cava.

Was uns in Valbella jedoch schnell aufgefallen war, waren die eher starr als neugierigen Blicke der "Bewohner" gewesen. Allesamt Jungfamilien mit Kindern und fast ebenso jung und sportlich wirkende Großeltern samt Enkeln, die in sauber gemähten Vorgärten adretter, dunkler Holzhäuser wie in einem viel zu wirklichen Traum saßen. Denn obwohl vor einem Haus der Griller rauchte, oder in den Gärten Spielzeug herumlag und Getränke auf den Tischen standen, schien sich nichts zu bewegen. Weder die Erwachsenen in ihren Stühlen, noch die in Sichtweite spielenden Kinder. Und am wenigsten die Blicke, die uns auch beim Rückweg wieder verfolgten. Erneut fanden wir die Abzweigung nicht, fragen wollten wir jedoch keinen dieser Geistermenschen. Nicht wegen ihres Glotzens, sondern da uns anhand der Kennzeichen ihrer fast durchwegs silbergrauen Großraumwägen klar geworden war, dass all diese Leute in Wirklichkeit woanders lebten.

So erkundigten wir uns nach der dritten erfolglosen Ortspassage bei zwei alten Männern, die neben der Straße ein Loch aushoben. - Ja, dort, deuteten sie gleich auf eine Lücke zwischen zwei Holzhütten, und dann immer geradeaus den Wald hinauf. Zwar gab es keine Markierung, doch kaum waren wir abgezweigt, sahen wir tatsächlich eine Zeitlang den Weg vor uns. Nicht als ausgetretenen Pfad, doch daran, wie hier vor langer Zeit die Steine gelegt worden waren, um den Steig für das Vieh zu befestigen. Im Wald verloren wir ihn zwar am gleichförmigen Fichtennadelboden, waren uns aber sicher, mithilfe der Karte die gut 400 Höhenmeter über uns eingezeichnete Alm zu finden, von der aus die über eine Reihe weiterer Almen führende Hangquerung zum ersten der beiden noch bevorstehenden Pässe verlaufen sollte.

Stattdessen aber war das Gelände, das wir oben am Plateau als die auf der Karte eingezeichnete Alm betraten, ein noch weit unwegsameres Gebiet als der hohe Fichtenwald des Steilhangs. Büsche, nichts als wild wuchernde Büsche und wild wucherndes, eintöniges Gras, dem jeder Geruch, jedes blühende Leuchten von Almwiesen in ihrer Artenvielfalt längst verloren gegangen war. - Hier war alles vorbei, nicht nur unser Weg. Wir suchten zwar noch eine ganze Stunde, mussten dann aber auch aus Zeitgründen aufgeben und zurück nach Valbella absteigen, um weiter draußen im Tal eine Ortschaft zu finden, in der es vielleicht doch ein Wirtshaus gab, in dem wir übernachten konnten - was wir in Rossa auch fanden, und dazu noch eine ganze Menge Weißwein. So hatte der Bus- und Zugtransfer am nächsten Tag nach Biasca nicht nur mit dem Nichterreichen der Capanna Cava zu tun, sondern auch mit unserem stolzen Kater. Und dieser wiederum nicht wenig mit dem Vergessen des im Val Calanca Erlebten. Erst als ich am darauffolgenden Freitag über einen so abenteuerlich steilen (1600 Höhenmeter auf vier Kilometer Strecke), wie in bewundernswert mühseliger Arbeit von der Alp Fiorasca die Felsflanke ins Val Bovana getriebenen Almpfad hinunterstieg und mich im Ort über den Wegbau erkundigen wollte, erinnerte ich mich wieder an den Nachmittag in Valbella.

Denn auch im Val Bovana wohnte niemand mehr, der von der früheren Bewirtschaftung des Tals etwas erzählen hätte können. Zwischen 1900 und 1950 sei es, wie mir der Wirt des Urlaubergasthauses in Fontana schließlich erzählte, zur Gänze verlassen worden. Als wir abends darüber ins Gespräch kommen, hat er gerade den Stammtisch der Ferienhausbewohner verabschiedet, sitzt da und blickt in den finsteren Ort, der wie das ganze Tal nicht elektrifiziert ist.

Es ist ganz still, er atmet aus und meint, wie schön diese Ruhe doch sei. - Schön?, frage ich ihn, muss an die Vorgärten und Blicke in Valbella denken und spüre plötzlich, was hier und dort, und weit über die Alpen und ihre Täler hinaus fehlt. Glück, jenes Glück einer Zeit, die ihre Wünsche noch nicht an die abstrakte Leere ausgelagerter Lebensbereiche wie Freizeit, Urlaub oder Pension verlor, sondern ihnen mit aller Kraft im Alltag nachging, als Arbeit am Leben. (Martin Prinz/DER STANDARD/Rondo/22.8.2008)