Wir sind jung und abhängig: v. li. F. Knopp, Jörg Pose.

Foto: Decflair

Bregenz - Mutterliebe, schön und gut. Was aber, wenn der Nachwuchs mit "30 plus" wieder auf der Matte steht? Und zwar nicht voll Dankbarkeit, sondern mit dem Taschenrechner? Im Querlesen der Küchenzeile bewährt sich die Praxis René Polleschs, mit dessen Stück Die Welt zu Gast bei reichen Eltern das Thalia Theater die shed8-Halle im Stadtteil Vorkloster bespielt.

Als Sehhilfe setzt Pollesch Theorie mit ein. Dabei bleibt das Diskursfeuer diesmal zunächst aus: Barbra Streisand und Barry Gibb beteuern einander lautstark ihre Unschuld und schieben die Einsamkeit ins Kriminal. Im Bühnenbild links außen schmiegt sich das Weibsbild aus einem US-Installateurs-Kalender lasziv an die Rohrzange, während fünf Darsteller/innen ohne Werkzeug auskommen müssen: Länge mal Breite hantieren sie in der lieblich desolaten Fifties-Küche von Janina Audick.

Man plagt sich mit Schubladen, Backblechen, Kastentürln, Armaturen, an allen Ecken und Enden klemmt's. Licht und Sound werden per Bewegungs- und Geräuschmelder angeworfen und abgestellt. Während des unterhaltsamen Treibens ohne Text legt man sich vom Publikum aus die Familienkonstellation zurecht - und wird bald eines Besseren belehrt: Jeder ist jede in diesem Pollesch-Coup: Hund, Kind, Mutter. Blutegel, krimineller Anarchist, unnatürliche Tochter.

Der Autor und Regisseur bietet wie immer keine Dialoge an, sondern schneidet seine Textflächen filmisch. "Ja, genau!" lautet jeweils der Cut, wenn eine andere Person übernimmt. "Ja, genau!" , selbst wenn das Folgende die komplette Negation des vorher Gesagten darstellt. Gelegentlich wird zurückgespult.

Eng nebeneinander auf der Küchenzeile hockend, lassen Anna Blomeier, Judith Hofmann, Jörg Pose, Bernhard Schütz und Katrin Wichmann, mit Support der unversteckt agierenden Souffleuse Gabriele Rau, in berückender Munterkeit lautes Nachdenken prasseln. Die Thesen hüpfen aus ihnen wie die Scheibchen aus dem Toaster: Was hat es auf sich mit dem Preis-Leistungs-Verhältnis von Beziehungen? Was mit dem Ort des Sozialen und des Asozialen, was mit dem "unmarkierten" weißen Hetero-Sprecher in der Kunst, was mit dem Mysterium von Charity-Ladies? Die Familie wird diagnostiziert als gefährliche Zusammenballung gegenseitiger Abhängigkeiten.

Zur Auflockerung bricht dann aber doch immer wieder verspielte Harmonie aus, in der Drehbühnenwohnung im Hintergrund: im Kollektiv unter der Dusche, beim Busseln vorm Zubettgehen oder beim pusseligen Eiertanz auf dem Reibfetzen, wenn das schwarz-weiße Schachbrettmuster des Küchenbodens nass gespritzt worden ist.

Nicht fehlen dürfen nachgestellte Leinwand- und Fernsehszenen: Mord und Totschlag! Auch die Nachzeichnung von Aktenzeichen XY, Psycho und Co kippt aus den Rollen:"Ich bin nur die Haushälterin", spricht einer der Männer mit demselben Anspruch wie seine Kolleginnen. Alles wird frisch mitgefilmt und auf eine von bunten Glühbirnen und "Love Me" -Schrift gerahmte Videowall übertragen.

René Polleschs jüngste Arbeit ist eine exzellent gebaute Verdichtung seiner kontinuierlichen Befragung von Wirklichkeit und Theater: ein idealer Einstieg für das Publikum in Bregenz, wo es mehr reiche Eltern als Donna-Haraway-Leser gibt. (Petra Nachbaur, DER STANDARD/Printausgabe, 23./24.08.2008)