Prag/Wien - Ende November 1989 sah die "Samtene Revolution" zunächst nach einer Renaissance des "Prager Frühlings" aus. Der Schriftsteller und Dissident Vaclav Havel, der nicht lange zuvor noch im Gefängnis gesessen war, und die Leitfigur von 1968, Alexander Dubcek, umarmten einander auf dem Prager Wenzelsplatz. "Lang lebe Dubcek" und "Dubcek auf die Burg" skandierten laut Medienberichten von damals Millionen Menschen im ganzen Land. Doch letztlich ging die "Samtene Revolution" eigene Wege.

"Bis zum Zusammenbruch des Kommunismus dachte man, dass 1968 und 1989 zwei gemeinsame Fluchtpunkte eines einheitlichen gemeinsamen Freiheitskampfes seien", meint dazu der Historiker Jan Pauer von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen, "bald geriet jedoch der Prager Frühling in den politischen Streit."

Es bekamen nämlich liberalkonservativen Kräfte wie Vaclav Klaus (später Havels Nachfolger als Präsident) die Oberhand und es kam zum Bruch, konstatierte Pauer: "Mit dem provokanten Diktum 'alle dritten Wege in der Wirtschaft führen in die Dritte Welt' haben sie politische Kontinuität zu 1968 zerschnitten. Sie haben gezeigt, dass sie ein anderes Verständnis von Demokratie haben als die 68er."

Kritik von prominenten "68ern"

Auch von prominenten "68ern" kamen kritische Stimmen. So meldete sich Jiri Pelikan zu Wort, von 1963 bis 1968 Direktor des Tschechoslowakischen Fernsehens und eine treibende Kraft des Prager Frühlings. Seiner Meinung nach wurde der Prager Frühling zweimal begraben. Das neue Macht-Establishment verhalte sich nicht besser als das Regime von Gustav Husak, meinte Pelikan. Husak hatte 1969 die KP-Führung übernommen und wurde zur Symbolfigur der so genannten "Normalisierung", der Ära nach der Warschauer-Pakt-Invasion 1968.

Anders sei die Entwicklung in der Slowakei gewesen, so Pauer. "In der Slowakei gab es keinen Streit über den Prager Frühling. Da dominierten nationale Themen. Da Alexander Dubcek der bekannteste Slowake aller Zeiten ist und sie das Gefühl haben, sie müssen sich als Nation sichtbar machen, ist er eine Figur im nationalen Pantheon. Er ist praktisch entpolitisiert worden. Selbst Parteien, die mit seinen politischen Ideen kaum etwas gemeinsam haben, erkennen ihn als nationale Figur an. Dadurch gibt es keinen Streit über 1968."

Auch in der ökonomischen Frage sei in der Slowakei eine Kontinuität des Denkens durchaus vorhanden gewesen. "Es war so, dass der dritte Weg durchaus diskutabel war", erinnert sich Pauer. Ein Grund dafür: "Die Kontinuität der kommunistischen Eliten ist in der Slowakei viel weiter ausgeprägt als im tschechischen Landesteil." Allerdings gab es auch im Westen politische Kräfte, die dachten, dass der Prager Frühling so etwas wie eine "Konvergenz der Systeme" nach sich ziehen könnte. "Sie glaubten an die Möglichkeit einer sozialen Marktwirtschaft." (APA)