Foto:Dusan Knap

In den nordslowakischen Dörfern sind sechs Kinder pro Familie nichts Besonderes.

Die Verkäuferin im Lebensmittelgeschäft im Dorf Rabèa, an der slowakisch-polnischen Grenze, wirkt so, als müsse sie sich ein wenig schämen: Sie hat "nur" drei Kinder, erzählt sie. Das absolute Minimum hier in der Gegend. Es sei hier nichts Ungewöhnliches, fünf bis acht Kinder in einer Familie zu haben. Entlang der 547 km langen Grenze wimmelt es auf der slowakischen Seite nur so von wunderschönen, kleinen Ortschaften.

Und genau in diesen Dörfern gibt es die höchste Geburtenrate in der ganzen Slowakei. "Vielleicht sogar in ganz Europa", betont der slowakische Journalist Ján Dzúr, der die Gegend sehr gut kennt. Der Rückgang der Kinderzahlen, ein gesamteuropäischer Trend, traf diese Gegend fast gar nicht. Die Geburtenrate liegt 3,2 Prozent über dem Landesdurchschnitt.

Für den Kinderreichtum sind vor allem die Kirche und die Tradition verantwortlich. Zur katholischen Kirche bekennen sich hier immerhin mehr als 90 Prozent der Einwohner.

"Das Sexualleben war immer schon weit mehr eine Frage der Fortpflanzung, als eine Frage der Lust", erzählt Vojtech Magurský, der früher in der Region als Frauenarzt gearbeitet hat. Schon Anfang der 1970er propagierte er Verhütung. Erfolgreich war er jedoch nur bei zwei bis drei Prozent seiner Patientinnen. Genauso kommt für die meisten Frauen Abtreibung nicht infrage. "Für sie ist es natürlich, gleich nach der Eheschließung Kinder zu bekommen und als Hausfrau zu arbeiten. Sie betrachten es nicht als Unrecht, sich nur an der Familie zu orientieren", stellt Magurský fest.

Die Tradition wird natürlich auch durch die Kirche verstärkt: Nicht einmal der Kommunismus und das offizielle Religionsverbot konnten die Überzeugungen der Menschen erschüttern.

Der Babyboom fing bereits in den 50ern an. Er hing auch mit dem Industriewachstum der Nachkriegszeit zusammen: Damals wurden neue Fabriken gegründet, viele Arbeitsstellen entstanden, und neue Familien bekamen staatliche Unterstützung. Darum ist man hier auch bis heute überzeugt, im Kommunismus besser gelebt zu haben.

Zu viel Mutterschaftsurlaub

"Jeder hatte Arbeit und Sicherheit", sagt Viera Tarcáková aus dem Dorf Oravská Polhora. "Keiner machte sich damals Gedanken, wenn wieder ein neues Kind in die Familie kam." Sie selber ist die Mutter von zehn Mädchen und vier Jungs. Im Durchschnitt bekam sie den Nachwuchs alle zwei Jahre. Keines der Kinder war geplant, alle "kamen" nur, erzählt sie.

Eine gelernte Näherin erzählt, sie möchte schon in die Arbeit, weil sie im Grunde nichts Anderes als Mutterschaftsurlaub kenne. Die Überforderung ist doch viel zu groß. "Die ganzen Jahren stehe ich nur in der Küche", sagt sie. Ihr Mann nimmt jede Arbeit an, die man ihm gibt - egal ob als Hilfskraft am Bau oder als Waldarbeiter. Die Menschen leben hier sehr bescheiden, zum Essen gib es am häufigsten Kraut oder Kartoffeln.

Die ehemalige Krankenschwester und Hebamme Mária Surovcíková erzählt, dass trotz der hohen Kinderzahl die hiesige Population ungewöhnlich gesund sei. In den vergangenen 40 Jahren half sie bei der Geburt von rund 100 Kindern pro Jahr - kein Kind und keine Mutter starben jemals bei einer Geburt. Die Geburtenzahl habe erst Anfang der 1980er etwas zu sinken begonnen, sagt sie. Statt acht bis zehn Kinder pro Familie, seien heute drei bis fünf die Regel.

"Zum Mittagessen koche ich ungefähr 50 Semmelknödel und so viel Fleisch, wie in einen Sieben-Liter-Topf passt", sagt Marta Majkútová, die Mutter von acht Kindern. Ursprünglich lebte sie in der Stadt, aber ihr Mann wollte unbedingt nach Biela Orava, einem weiteren Dorf in der Grenzregion, ziehen.

Sie erzieht ihre Kinder alleine, den ihr Mann arbeitet in der Südslowakei und kommt nur einmal im Monat nach Hause. Auf die Frage, ob ihr etwas fehle, hat sie eine recht einleuchtende Antwort: "Mir fehlt die Zeit, um mir das zu überlegen." (Lýdia Kokavcová, DER STANDARD, Printausgabe, 19.8.2008)