Emmerich Tálos: "Die Probleme einer Mutter in Teilzeit haben wenig mit jenen eines Stahlarbeiters zu tun."

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Die Fragen stellte Leo Szemeliker.

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STANDARD: Was macht die Sozialpartnerschaft zum Austriakum?

Tálos: In Österreich gibt es seit fast 100 Jahren ein Naheverhältnis zwischen bestimmten Interessenorganisationen und politischen Parteien - in der Ersten Republik etwa zwischen den Handelskammern und der christlich-sozialen und der großdeutschen Partei. Im Unterschied zu den USA haben wir deswegen keinen klassischen Lobbyismus. Es gibt in Österreich zwei Routen für die Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen: Die eine ist die vertikale Verknüpfung mit einer Partei durch personelle und funktionelle Verschränkung. Die zweite ist eben die horizontale Vernetzung, die Abstimmung mit der anderen Seite und der Regierung über die Sozialpartnerschaft.

STANDARD: Gestatten Sie die einfach gestrickte Frage: Ist das alles gut oder schlecht für dieses Land?

Tálos: Auf der einen Seite hat die enge Zusammenarbeit zwischen Verbänden und Regierung Wesentliches erbracht, das sieht man an den ökonomischen Daten. Aber das Muster der Sozialpartnerschaft hat auf jeden Fall auch negative Auswirkungen auf die Transparenz, im Hinblick auf demokratische Entscheidungsprozesse.

STANDARD: Das heißt: Sozialer Friede im Land rechtfertigt noch keine "Nebenregierung" , die sich nie einer Wahl stellen muss?

Tálos: Genau. Dazu kommt: Sozialpartnerschaft hat immer vor allem Politik für erwerbstätige Männer bedeutet. Das Bild, an dem sich Sozialpartnerschaft orientiert hat, waren in erster Linie die Erwerbstätigen und dann die, die dauerhaft eingebunden waren.

STANDARD: Wie sehen Sie Sozialpartnerschaft heute im Vergleich mit der Benya-Sallinger-Zeit?

Tálos: Damals hatten Gewerkschaft und Wirtschaftskammer auf Augenhöhe miteinander gesprochen. Aufgrund der großen Probleme, die der ÖGB zuletzt hatte, ist das nicht mehr so. Der Benya-Sallinger-Mythos hat außerdem mit den damaligen Bedingungen zu tun: hohe Wachstumsraten, Ausweitung der Beschäftigung. Es hat alles gepasst. Auch die verstaatlichte Industrie war wichtig für die Gewerkschaften. Mit deren Privatisierung seit der zweiten Hälfte der 80er-Jahre ist ein Machtfaktor für die Gewerkschaften weggefallen. Dazu kommt: Die Probleme einer Mutter in Teilzeit haben wenig mit jenen eines Stahlarbeiters zu tun - mit einer Stimme zu sprechen ist schwierig. Früher konnten außerdem Wirtschaftsmaterien gegen Sozialmaterien getauscht werden. Zum Beispiel: Agrarmarktgesetze für die Einführung neuer Urlaubsgesetze. So etwas gibt es angesichts der EU-isierung Österreichs nicht mehr.

STANDARD: Wird es 2020 noch Sozialpartnerschaft geben?

Tálos: Dass alle traditionellen Ansätze akkordierter Politik vollends auslaufen, halte ich für ausgeschlossen. Ansonsten hängt es von den politischen Kräftekonstellationen ab. Früher hatte das keine Rolle gespielt, unter einer roten Alleinregierung erlebte die Sozialpartnerschaft ihre Hochblüte. Schwarz-Blau hat aber deutlich gezeigt, dass die Regierung den Handlungsspielraum der Sozialpartnerschaft enorm beeinflussen kann. Ich denke, dass das Muster der Zusammenarbeit eine Fortführung erfährt, aber nur in einer abgeschlankten Version, reduziert auf Kernbereiche - Arbeitsrecht, soziale Sicherung, Gleichbehandlung, Berufsausbildung.

STANDARD: Müssen wir uns auf mehr soziale Konflikte einstellen?

Tálos: Die Interessendivergenz in unseren Gesellschaften steigt grundsätzlich. Unternehmen, die international agieren, haben andere Optionen als Gewerkschaften, die nur im eigenen Land operieren. Die Gewerkschaftsbewegung muss aber, ungeachtet der Jahre 2003 und 2004 mit den Protesten gegen die Pensionsreform, an der Strategie des Verhandelns festhalten. Sehr viele andere Möglichkeiten hat die Gewerkschaft nicht mehr. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.8.2008)