"Ich müsste nur mit der Straßenbahnlinie 18 vom Urban-Loritz-Platz zum Südbahnhof zuckeln, in dreißig Minuten ist man dort, und dann auf nach Venedig oder Rom. Wien liegt gar nicht so weit von den Weltstädten entfernt, man bedenke, man fährt nach Schwechat, und schon ist man in New York."

Brigitte Schwaiger, geb. 1949 in Freistadt/OÖ, ist österreichische Schriftstellerin. Ihr Debütroman "Wie kommt das Salz ins Meer?" (1977) war ein Bestseller. Zuletzt erschien von ihr im Czernin Verlag "Fallen lassen" (2006), eine Beschreibung ihrer Erfahrungen in der Psychiatrie.

Archivfoto: Czernin Verlag

Bei uns im Bezirk waren mehrere schon auf der Baumgartner Höhe. Man trifft einander in der Kaiserstraße, Zieglergasse, Neubaugasse, man grüßt einander oder auch nicht.

Wir halten den Neunundvierziger heilig. Er bringt uns, wenn wir wollen, bis nach Hütteldorf, und wer will, kann sich mit einem gestempelten Acht-Tage-Ticket von früh bis spät durch die Wienerstadt kutschieren lassen, das hat Frau E. getan, als sie Krebs hatte. Als sie wusste, dass sie nicht mehr allzu lange leben würde, ließ sie sich in der Straßenbahn durch Wien fahren, schaute sich alles noch einmal genau an oder vieles vielleicht zum ersten Mal. Ich möchte eigentlich auch, wenn ich einmal wissen sollte, dass ich demnächst sterben muss, noch etwas Besonderes tun.

Vielleicht noch zum Sacher und mich mit einer Gräfin verwechseln lassen, was mir einmal geschah. Es ist 1979 gewesen, als ich im Hotel Sacher etwas abzuholen hatte. Dort saß Paul Wittgenstein, der Cousin des Philosophen Ludwig Wittgenstein, im Foyer. Er trug keine Schuhe, denn die wurden gerade geputzt. Paul Wittgenstein litt an der manisch-depressiven Krankheit, womit wir beim Thema wären. Paul Wittgenstein soll seiner Familie auf die Nerven gegangen sein mit seiner Krankheit. In der Manie tut einer, was ihm gerade einfällt, und er hört nicht auf. Bis sie merken, dass er eine Manie hat, und dann zwingen sie ihn mehr oder weniger, ins Spital zu gehen. Früher hat man Zwangsjacken gegeben, Arme hineingesteckt, hinten zugebunden. Heute gibt man Medikamente. Dann tritt eine Phase der Beruhigung ein, und zur Sicherheit wird man meist auch "weggesperrt". Also, ein Beruhigungsmittel, dann ein spezielles Medikament, und die Patientin sabbert, wenn sie wieder herumgeht, es tropft ihr der Speichel von der Unterlippe, ich glaube, ich habe das schon beschrieben. Dann erfolgt eine Phase der Depression, das ist notwendig, sagt man, damit der Patient dann aus der Tiefe der Sinnlosigkeitsgefühle wieder in die Höhe kommt, aber eine Manie darf es nicht werden. Zu Hause soll er, soll sie dann brav die Medikamente nehmen. Jedem wäre die Manie lieber, nur endet sie halt so, dass einer oder eine nicht mehr Herr, Herrin seiner, ihrer Sinne ist.

Bei uns im Bezirk waren mehrere schon auf der Baumgartner Höhe. Man trifft einander in der Kaiserstraße, in der Westbahnstraße, Zieglergasse, Neubaugasse, man grüßt einander oder auch nicht: Es möchte nicht jeder, jede dadurch, dass er, sie alte Bekannte trifft, an Steinhof erinnert werden, es schauen also einige weg.

Der Bezirk hat kein eigenes Krankenhaus, wir müssen ins AKH oder auf die Baumgartner Höhe. In Wien kenne ich mehr die Spitäler als die Kaffeehäuser, habe ich mir einmal ins Tagebuch geschrieben. Wir treffen hier manchmal Krankenschwestern, die im Steinhof oder im AKH arbeiten. Nicht jede will erkannt und gegrüßt werden. Es erinnert sie das ja an ihre Arbeit, und Wien ist eine Großstadt, in Wien ist man anonym, außer im siebenten Bezirk.

Die U6 fährt vom Urban-Loritz-Platz zur Thaliastraße, zur Josefstädterstraße, Alser Straße, und dann große Station, Michelbeuren. AKH. Aussteigen, wer jemanden in den Bettentürmen besucht oder selber krank ist. Weiterfahren über Station Währinger Straße (Volksoper) und Nußdorfer Gürtel, von dort kann man nach Grinzing mit Bahn und Bus, und dann käme die vergoldete, von Friedensreich Hundertwasser verschönerte Müllverbrennungsanlage, würde man nicht vorher aussteigen, AKH, Psychiatrie (damit ich beim Thema bleibe), und gar so weit ist es also nicht. Jeder kann auch jederzeit in der Neustiftgasse in den Bus 48A steigen und auf der Baumgartner Höhe um Hilfe bitten, anstatt sich das Leben zu verkürzen.

Eine schöne Reise ist auch von der Kaiserstraße/Westbahnstraße mit der Straßenbahnlinie 5 Richtung Josefstädterstraße, dort aussteigen, hinüber in den neunten Bezirk, in die Zimmermanngasse, zur Psychotherapeutin. Eine anmutige Frau, noch nicht fünfzig, groß und so sympathisch, dass es mir leidtut, sie nicht nur als Freundin zu haben. Sie muss darauf achten, dass aus der Therapiestunde nicht ein Freundinnentratsch wird. Der therapeutische Abstand ist wichtig. Besteht er nicht, so kann der Arzt dem Patienten nicht helfen.

Kehre ich aus der Zimmermanngasse zurück in meinen Bezirk, so fühle ich mich, wie vielleicht ein anderer sich fühlt, erfrischt, nachdem er in der Sauna war. Verhaltenstherapie ist eine gründliche Dusche für die Seele. Man wäscht Unreines von sich fort, man rekapituliert, wann man sich wieder ausnützen hat lassen (psychisch Kranke werden oft ausgenützt, weil sie seelische Laberln sind). "Egoismus kann man lernen, Frau Schwaiger!", also, ich bin immer noch eine Lernende, wie man eine Egoistin wird.

"Nein" zu Journalisten. Ich ge- be keine Interviews mehr, es gibt kein "Gehen wir Schwaiger schauen!". Sie ist aufgeschwemmt von den Medikamenten, was möchten Sie denn sehen. Wollen Sie ihre Wohnung betreten? Dort ist nicht aufgeräumt! Was wünschen Sie für Statements? Von einer psychisch Kranken werden Sie nur hören: Der Flugverkehr muss stark nachlassen, die Atmosphäre wird ruiniert, und es sind einige allein deshalb schon in den Tod gesprungen.

Es gibt im achten Bezirk in der Wickenburggasse einen Psychosozialen Dienst, aber keinen bei uns im siebenten. Nur viele Gasthäuser. Ansaufen kann man sich an jeder Ecke, alle paar Meter. Ich habe es noch nicht durchgeführt, aber einige Male nahm ich mir vor zu zählen, wie viele Gasthäuser es allein in der Westbahnstraße gibt. An Montagen meist, frühmorgens, also nach den Wochenenden, da und dort etwas Ausgespienes, jemand hat sich übergeben. Das ist unappetitlicher als Hundekot, denn man stellt sich beim Hundekot den armen Hund vor, der nirgendswo anders darf, bei der Speie aber den Betrunkenen, der nicht gewusst hat, wie viel er verträgt. Ich selbst habe meine trockene Phase, denn ich bin alkoholabhängigkeitsgefährdet, kein Tropfen ist mir erlaubt. Nicht dass ich den Alkoholismus im Blut hätte, dies ist eine eigene Krankheit, aber ich bin suchtgefährdet. Außerdem haben wir psychisch Kranke die Tendenz, uns "nieder" zu trinken, Bewusstlosigkeit anstrebend, vielleicht - so wird gehofft - den Tod.

Ich war aber im Oktober, also vor fast einem Jahr, zuletzt in der Klinik (Psychose), hatte vor einem Jahr meinen letzten stark alkoholisierten Zustand, und nun erreichte mich das Korrespondenzkärtchen eines Priesters. Er empfiehlt mir, mich nicht wichtig zu nehmen. Er meint, wenn ich aufhörte, "Sie und die Welt so wichtigzunehmen", würde ich lustige Texte schreiben und viele Menschen zum Lachen bringen. Freunde, möchte ich da mit ich weiß nicht wem sagen, "liebe Freunde", "darum geht's doch nicht, dass ich euch zum Lachen bringe". Sondern heute etwas über mein Heimatgefühl in Wien, der geliebte siebente Bezirk, in dem Bäume stehen, in dem es mehrere Theater, sehr nette Geschäftsleute gibt und der frisch gepresste Karottensaft gegenüber, die bunte Welt im Papiergeschäft in der Neubaugasse, die Buchhandlung, ich darf keine Firmennamen nennen, aber jeder weiß, wo man Papier, wo man Bücher kauft, Papierwaren Frieda Embacher gibt es ja leider nicht mehr, sie ist gestorben, also gehe ich in die Neubaugasse, dort heißt eine Gasse sogar Mondscheingasse, das Postamt, mit dem netten Herrn Goldberger, früher war es Herr Müllner, schon in Pension, dessentwegen ich gerne hinging. Ich habe schon deshalb keinen PC und keine E-Mail, weil sich dann der persönliche Kontakt mit den Mitmenschen in der Mondscheingasse aufhören würde.

Manchmal getraue ich mich bis ganz nach vorne, Neubaugasse, Mariahilferstraße, da schlendere ich dann ein wenig furchtsam und betrete die gigantisch große Thalia-Buchhandlung, und dort sind so viele Bücher, dass einem als Schriftstellerin schlecht wird. Man geht schnell wieder heim, sonst verliert man den Glauben an den Sinn des Schreibens.

Das sind meine Reisen. Weil mich wieder jemand gefragt hat, ob ich denn nie nach Paris komme. Der Peter war's, Professor Berner, früher Chef der Psychiatrie AKH. Nachfolger des legendären Wiener Psychiaters Hoff. "Was soll ich denn in Paris tun?", fragte ich. "Ja, der Hoff", sagte Berner, als er auf Besuch in Wien war, "er hat einmal nach Rom fliegen müssen und gesagt: Was soll ich denn einen ganzen Tag in Rom tun?" Anders Sigmund Freud, er fuhr gerne nach Rom, besichtigte, kaufte ein.

Ich müsste nur mit der Straßenbahnlinie 18 vom Urban-Loritz-Platz zum Südbahnhof zuckeln, in dreißig Minuten ist man dort, und dann auf nach Venedig oder Rom. Oder vom Westbahnhof (Linie 5 verbindet den Westbahnhof mit dem Prater, siehe Riesenrad und Geisterbahn), und dann wäre ich bald in Paris. Wien liegt gar nicht so weit von den Weltstädten entfernt, man bedenke, man fährt nach Schwechat, und schon ist man in New York.

Aber ich reise mit dem Neunundvierziger und bin zufrieden. Wenn ich kühn bin, alle zwei Jahre, fahre ich mit dem 49er zur Bellaria, steige um in den Ringwagen 1 oder 2, steige aus bei der Oper, gehe durch die Kärntnerstraße zum Stephansdom und atme internationale Luft. Oder ich steige bei der Bellaria aus, gehe am Parlament vorbei, das neu hergerichtet ist, und dann ins Café Landtmann, wo Frau von Loe, eine Germanistin aus Südamerika, mich treffen will, wenn sie in Europa ist.

Und da soll Wien nicht schön sein? Die Spatzen setzen sich aufs Tablett, trinken fast mit, beim Kaffee, heraußen, vor dem Café Landtmann, nah dem Burgtheater, dessentwegen ich ja eigentlich mit 18 Jahren aus Oberösterreich hergezogen bin, wenn ich auch die Theater Wiens von innen nicht so gut kenne wie die Spitäler. Alles kann man nicht haben. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16./17.8.2008)